Textatelier
BLOG vom: 18.12.2020

Flavio Cotti – Sein Profil waren Bildung und Kultur

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Aesch/LU


Flavio Cotti war ein Bundesrat mit hohem Bildungsprofil, wie es heute in dieser Behörde kaum mehr vorhanden zu sein scheint; ein sprachbegabter Humanist wie wenige, auch ein glänzender Moderator. Diese Eigenschaft hatte er schon als Parteipräsident der CVP zu meiner Zeit als Delegierter 1984 – 1986 an den Tag gelegt. Es war eine Freude, mit Victor Kuhn, Marcel Sonderegger, dem Staatskundebuchverfasser und früheren Lehrer Cottis, Alfred Huber aus Obwalden, an diesen Versammlungen teilzunehmen, die geprägt waren von hoher gegenseitiger Wertschätzung.

Als ausgezeichnet und bis heute auf seiner Stufe nicht mehr erreicht können Cottis Kenntnisse der hochstehenden Soziallehre von Oswald von Nell-Breuning gelten, auch „Christliche Soziallehre“ genannt, eine die christdemokratischen Parteien der Nachkriegszeit prägende Programmatik, angefangen von den Sozialenzykliken der katholischen Kirche ab „Rerum novarum“ (1891) bis „Quadragesimo anno“, progressiv ergänzt unter Papst Johannes XXIII. durch „Mater et magistra“ und das eindrücklich sozial fortschrittliche Lehrschreiben „Populorum progressio“ bei Paul VI. Diese zwar nicht spezifisch schweizerischen Gesichtspunkte machten denn auch Flavio Cotti zum überzeugten Europäer. Wobei freilich der Schriftsteller Reinhold Schneider 1958 darauf aufmerksam machte, dass zwischen dem Europa der Kathedralen, Euromarkt und Euratom ein Unterschied zu machen sei. Aber Cotti wusste noch, was ein Christdemokrat ist:

 „Das berühmte C, über das man sich in meiner Partei so viele Fragen stellt, bedeutet für mich, neben die Freiheit auch die Solidarität zu setzen. Ich glaube, die wirtschaftliche Freiheit und die wirtschaftlichen Erfolge rechtfertigen sich nur, wenn sie sich auch zugunsten der Armen auswirken. Das ist der Sinn der christdemokratischen Gesinnung.“ (Originalton Cotti!)

Über Flavio Cotti schreiben, bringt den kritischen Betrachter  aber in einen Zwiespalt: Der aus meiner Sicht beste Parteipräsident der CVP in den letzten 40 Jahren, ein Mann von Bildung und auch traditionsbewusster Kultur wie vor ihm zum Beispiel Hans Hürlimann, glänzend auftretender Bundespräsident in den Jubiläumsjahren 1991 und 1998, eloquent wie wenige: auf der anderen Seite leider nicht zu Unrecht im Ruf eines Ankündigungsministers, dem bestenfalls Dinge gelungen sind, die auch ohne ihn gekommen wären, etwa das BuWal in Ausführung der Motion Julius Binder zum Umweltschutz von 1964. Auch die 10. AHV-Revision und kulturpolitisch zum Beispiel die Einrichtung des Schweizer Literaturarchivs, was aber im Prinzip das Verdienst und die Leistung von Friedrich Dürrenmatt ist.

 Der letztere warnte vor aussenpolitischer Überaktivität und – was gerade hochaktuell ist – vor einem Beitritt der Schweiz in den Uno-Sicherheitsrat. Sofern dieser tatsächlich erfolgen sollte, erhalten die seinerzeitigen Gegner des UN-Beitritts, darunter der Luzerner Theologe Herbert Haag, nachträglich leider noch recht. Selber glaubte ich die in die heutigen aussenpolitischen Dilemmata führende Politik der dieses Jahre verstorbenen Bundesräte René Felber und dem als Parteipräsidenten verehrten Flavio Cotti insofern kritisieren zu dürfen, als der Aargauer Bundesrat Hans Schaffner mit seiner ebenfalls phänomenal klugen Frau mir noch persönlich bekannt war. Wie kein zweiter seither konzentrierte dieser Wirtschaftspolitiker und Staatsmann Aussenpolitik auf Interessenpolitik und historische Erfahrungen mit der Neutralität.

Gegen Ende des Jahrtausends wurden die Verhältnisse komplizierter, ausser dass schlagwortartiger Idealismus ebenso wenig angebracht blieb wie Abschottung., welches zwar nicht gerade die Linie des Unternehmer-Bundesrates Christoph Blocher gewesen ist. Dessen Netto-Leistung bleibt wohl die Ablehnung des EWR-Vertrags von 1992, dessen Details von weniger als einem Promille der Stimmberechtigten ernsthaft studiert werden konnten. Vermutlich aber schon von Flavio Cotti. Darum liess er sich als ausschlaggebende Stimme mit weiteren Versager-Bundesräten gegen den Widerstand der Politiker Arnold Koller und Otto Stich zu einem noch den EWR-Beitritt begleiten sollenden Beitrittsgesuch in die Europäische Union verleiten, womit die knapp ausgegangene Jahrhundert-Abstimmung auch aufgrund politischer Dummheit beerdigt wurde.

Im Anschluss daran kamen bilaterale Verträge in Richtung verantwortungslose Guillotine-Klausel, was wiederum auf krasse Unfähigkeit oder, was ich nicht annehme, fiese Taktik des Beitrittszwangs zu interpretieren wäre. Wie auch immer: die Schweizer Aussenminister, zu denen leider auch der von Giuseppe Motta inspirierte Flavio Cotti gehörte, waren mit ihren Verhandlungsdelegationen Weltmeister im Eierlegen. Dass sie es gut meinten, ändert nichts an mangelndem staatsmännischen Geschick bis hin zur Unfähigkeit aufgrund von Überforderung im Umfeld eines Meinungsklimas, dem man nun mal standhalten müsste.

Zu den Persönlichkeiten, die das besser gewusst haben, gehörte ohne Zweifel der gleichzeitig mit Flavio Cotti 1986 in den Bundesrat gewählte Arnold Koller. Sein Bemühen, das Aussenministerium zu übernehmen, scheiterte am Gesamtbundesrat wohl auch deswegen, weil Flavio Cotti in Sachen Sprachbegabung ein Phänomen war und von für die Schweiz überdurchschnittlicher repräsentativer Begabung. Dass ihm der politische Instinkt für grosse Sachen fehlte, was selbst einem oft plump auftretenden Politiker wie Helmut Kohl kaum abging, hat die Schweiz gegenüber der EU noch heute auszulöffeln. Was Flavio Cotti lag, war es, „die Politik, die ohnehin geschieht“ (Hürlimann), zu verkaufen; eine Haupteigenschaft der CVP-Bundesrätinnen bis heute, welche Aufgabe ebenso gut oder gar noch besser von einer anderen Mitte-Partei übernommen werden könnte. Nicht zu vergleichen mit der zunächst manchmal übereifrigen Gestaltungskraft eines Kurt Furgler, die aber dann Arnold Koller mit der Verfassungsrevision von 1999 zu einer wirklichen Netto-Leistung eines CVP-Bundesrates vollendet hat. Dass diese Verfassung noch viele in politische Versuchungen auszuinterpretierende Phrasen und Deklamationen enthält, war nicht die Schuld des Bundesrates.

Über alles gesehen halte ich Flavio Cotti, diesen hochgebildeten redlichen Menschen, ehemaligen Schüler des Kollegiums Sarnen, im Denken mit theologischen und literarischen Dimensionen ausgestattet, für ein Beispiel der zum Teil systembedingten permanenten Überforderung unseres Bundesrates. Auch ein Argument dafür, dass der sogenannte Souverän von Volk und Ständen dann und wann die Notbremse ziehen muss. Nicht weil dieselben klüger sind, sondern weil die Regierenden, wie gegenwärtig, ihrerseits Entscheidungen ohne das geringste garantierte Wissen treffen, auch unter dem Druck der Massenpsychologie. Vergleiche die Kanonenschüsse in Salzburg und anderen Städten zur Zeit der Cholera (1831) zum Zweck der Luftreinigung. Als eine Regierung mit dieser Praxis anfing, mussten es viele andere nachmachen. Schliesslich wollte man für das Volk nur das Beste. Letzteres kann und darf unseren Bundesräten mit Fug und Recht nachgesagt werden.  Flavio Cotti v/o Kiki, mein geschätzter Farbenbruder, möge ruhen im Frieden des Herrn!

Literatur: Altermatt, Urs: Das Bundesratslexikon. NZZ Libro 2019

 
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