Textatelier
BLOG vom: 29.09.2016

Le Locle im Jura (CH)

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London


Der Reisende, der in Le Locle aussteigt, tut gut daran, sich die nächste Zugsabfahrt vorzumerken, denn dieses welsche Grenzstädtchen bietet wenig Zerstreuung. Wie ein furchtsamer Hase in der Ackerfurche, hat es sich in die Talmulde gedrückt und scheint sich des tiefblauen Himmels über seinen schwarzen Dächern mit den schiefen Kaminen zu schämen. Einzig die Krähen haben dieses hochgelegene Jurastädtchen zu ihrem Spa erkoren. Rund um sechs Uhr morgens weckt ihr Gekrächze die Uhrenmetropole. Mir wurde erzählt, dass man eines Tages versucht habe, die Plage zu meistern. Zahlreiche Lautverstärker seien im und rund um den Ort herum aufgestellt worden. Der Todesschrei einer Krähe, auf Tonband wiedergegeben, wirkte. Kreischend sei das Gefieder aufgestoben und weggeflogen. Vierzehn Tage lang mussten sich die Einwohner wieder auf ihre Wecker verlassen. Danach seien sie in verstärkter Anzahl wiedergekommen. Seither liess man sie unbehelligt.

Eine Stunde nach Fabrikschluss ist das Städtchen wie ausgestorben. Gut die Hälfte der Schaufenster sind unbeleuchtet. Nur auf dem Marktplatz stehen einige Grüppchen Gastarbeiter verloren im Halbdunkel.

Arbeit beeinflusst die Lebensart. Die Uhrenindustrie hat die ganze Talschaft vor hundert Jahren einheitlich erfasst. Die Bevölkerung hantiert mit Schräubchen, Federchen und Rädchen, nicht nur tagsüber, sondern sehr oft noch bis spät in den Abend hinein, als Heimarbeit und Nebenverdienst. Manche bewirtschaften überdies ein kleines Gütchen, das nichts abwirft. Die raue Umwelt hat diesen zweimal gebackenen Bauernschlag sparsam, wortkarg, kurzsichtig und engstirnig gemacht.

Nicht ohne Grund wird die Talebene das schweizerische Sibirien genannt – stets streicht ein kühler Wind talwärts, erfrischend im Sommer, eiskalt im Winter. Blühen im Unterland schon die Kirschbäume, knirscht dort oben noch der Schnee unter den Füssen. Erst spät im Frühling brechen tosend die Schneelasten von den Dächern und türmen sich auf den Gehsteigen. Das Lob gebührt dem Herbst; kein Wirbelwind entlaubt die Bäume in einer einzigen stürmischen Nacht. Das Laub fällt erst, wenn es seine Farbenpracht verleuchtet hat.

In dieser Jurahöhe verbrachte ich nach der Rekrutenschule zwei heitere Burschenjahre. Ich war dem Verkaufschef einer Uhrenfabrik unterstellt, einem munteren, gerissenen Tausendsassa aus Luzern, der seine Arbeit ebenso verstand wie Spässe. Sich nach aussen hin austoben zu dürfen, ist ein Vorrecht der Jugend. Endlich konnte ich mich ein bisschen aus meiner Selbstbezogenheit befreien. Zwar blieb meine angeborene Schüchternheit haften, doch konnte ich sie zeitweilig eindämmen und mich unbefangener geben.

Ein gleichaltriger Berner, auch er der Rekrutenschule entronnen, arbeitete im Büro nebenan, und mit ihm zusammen bin ich oft abends nach La Chaux-de-Fonds losgezogen, um Französischkursen an der dortigen Handelsschule zu folgen. Einige Male haben wir den Abendkurs besucht, doch meistens bogen wir einige Häuserblocks vor der Schule wieder ab und zurück auf die Hauptstrasse 'Avenue Léopold-Robert'. Es gebreche uns nicht an Grammatik, argumentierten wir, wohl aber an Konversation, und die fänden wir besser anderswo. Die Mädchen sind allerorts bekannt für ihr Mundwerk. Ihnen stellten wir nach. Im rauchverhangenen Keller des 'Dominos” fanden wir das, was wir suchten. Leider wurden unsere Bemühungen in der fremden Zunge vom Musikautomaten überdröhnt. Innert Kürze entwickelten wir eine Punktskala, womit wir die Weiblichkeit zwischen eins und zehn einstuften. Nach einem Fondue und einer doppelten Portion Weisswein waren wir stets besonders aufgekratzt. Unsere überhitzte Vorstellungskraft ging durch alles, was der Sprachschatz zum einschlägigen Thema hergab. Wie siegesgewiss wir auch immer loszogen, konnten wir gewiss sein, mit dem letzten Bummelzug wieder kleinlaut zurückzukehren, unsere Enttäuschung hinter Witzeleien verbergend.

Anderntags hatten wir das Gestern rasch vergessen. Unsere Ausbeute amüsierte unseren Chef während der Teepause. Er unterhielt uns seinerseits mit Anekdoten aus seinem reichgespickten Erinnerungsschatz. Er zehrte von einem mehrjährigen Aufenthalt im Fernen Osten. Getreulich wortmalte er für uns gern die Reize einer gewissen Kambodschanerin, wobei er dieses oder jenes erotische Erlebnis mit einer rundfliessenden Gebärde hervorhob. “Und die hatte noch eine Schwester ...” schloss er andeutungsvoll. Wir hingen ihm am Mund, denn er war ein geschickter Erzähler.

In der Einkaufsabteilung sass eine Jungfer. Die von Tag zu Tag saurer wurde – und dies seit zwanzig Jahren. Und kam sie in die Tage, durfte sich ihr kein männliches Wesen nähern, ausser Herr Eberhard, unser Verkaufschef. Zudem war die Jungfer ihrer scharfen Zunge wegen in der ganzen Fabrik gefürchtet. War Herr Eberhard in ihrer Nähe, spielte sie das junge süsse Mädchen und besorgte seine Bestellung zuvorkommend, rasch und zuverlässig. Dank Herr Eberhard behandelte sie mich etwas nachsichtiger. Hinzufügen möchte ich: Nie wurde Herr Eberhard nach Feierabend von uns gesehen. Er hielt es mit seinem Privatleben wie die Forelle unterm überhängenden Gewächs des Bachufers.

Ich will jetzt ein wenig über Françoise berichten. Diese Juraperle darf nochmals, und gewiss nicht das letzte Mal, meine Erinnerungen an die Welschlandjahre überstrahlen. Da bleibt nichts Bitteres haften, das meine Rückblicke vergällen könnte. Françoise arbeitete für die besagte Jungfer in der Einkaufsabteilung. Françoise war rothaarig und mit Sommersprossen übersprenkelt. Herr Eberhard nannte sie “fruchtig” und sorgte dafür, dass sie oft zu uns ins Büro kam, um den stets knappen Bestand an Schreibpapier zu ergänzen. (Ich schrieb u.a. Essays, Kurzgeschichten, jeweils eine Stunde vor Arbeitsbeginn.)

Herr Eberhards Zeigefinger wies auf mich und er sagte, ausser ihm freue sich auch sein Mitarbeiter auf ihre Besuche bei uns. Françoise errötete. Das stand ihr gut, wie sie züchtig weghuschte.

Im Sommer scheint dieser Jurastrich den Fliegen zu behagen, ganz besonders unser Büro. Wir liessen die Fenster einladend weit geöffnet, bis ihrer genug im Raum umherschwirrten und unterm Deckenlicht ihre Schlaufen flogen. Jagdpause! Wir unterbrachen unsere Arbeit. Françoise brachte uns die Munition – eine Schachtel Gummibändchen. Streng geregelt begann unsere Fliegenjagd mit Gummibändchen ans Lineal gespannt. Einige wenige Treffer gelangen uns. Unsere Pause war auf zehn Minuten beschränkt.

Einem gedenkwürdigen Anlass in der Geschichte von Neuenburg, verdankten Françoise und ich einen freien Tag. Wir verloren uns im welligen Gelände zwischen Le Locle und dem Doubsfall, warfen unterwegs Kiesel und Tannenzapfen und rannten um die Wette. Zur gesummten Melodien tanzten wir in einer Waldlichtung. Der Hunger meldete sich. Wir liessen uns im Gras nieder und genossen den von Françoise zubereiteten Imbiss. Wir streckten uns im Gras aus und dösten unter der Sonne. Die Glocken von La Brévine weckten uns aus dem Halbschlaf. Wir machten uns auf den Heimweg und erreichten Le Locle kurz vor dem Sonnenuntergang.

Drei Wochen später verliess ich Le Locle. Mein erster Englandaufenthalt erwartete mich. Übers letzte Wochenende lud ich Françoise zum Besuch nach Basel ein. Wir beide ahnten, dass uns der Abschied bevorstand. Ich brachte sie zum Bahnhof. Lange winkten wir uns nach.

 

P.S. Aus meiner Textsammlung “Zwischenblende 24” aus dem Jahr 1976

 


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