Textatelier
BLOG vom: 19.07.2016

Der Tanz des Lebens und des Todes

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 


Darstellung des Totentanzes in der Kirche "Maria im Fels", 15. Jh., Beram, Istrien/Kroatien
(Foto: Richard Gerd Bernardy)
 

Bei den Abbildungen des Totentanzes haben die Menschen alle ein Gerippe als Begleiter. Der Tod begleitet unser ganzes Leben, von der Entstehung bis zum Ende.

Ein Freund gestand mir, dass er die Menschen, die so gänzlich unerwartet aus dem Leben gerissen werden, manchmal beneide. Insgeheim hoffe er, dass so ein Zufall eines Tages auch ihn treffen wird.

Immer ist es ein Zufall, dass gerade in dieser Minute, in der man an diesem Ort ist, es geschieht. Ein Flugzeug stürzt ab, ein Bankräuber schiesst um sich, ein Amokläufer mäht die Menschen nieder. Eine Bombe explodiert neben dir, ein Autofahrer fährt dich „über den Haufen“.  Wie so „über“? Das Idiom hat sich in den letzten Jahrhunderten geändert, es soll anzeigen, dass nach dem Unfall nur noch ein Haufen übrig bleibt, „zu einem Haufen“ wird das Opfer dann. Kein Mensch mehr, nur noch etwas Unförmiges.

Er gehe oft ein paar mehr Risiken ein, steige gern ins Flugzeug, fahre die mit dem Auto mögliche Höchstgeschwindigkeit. Nichts Spektakuläres, aber immer spielt eine oft unbewusste Todessehnsucht mit.

Er sei nicht depressiv. Jedenfalls verstehe er Mitmenschen nicht, die von sich selbst behaupten, sie seien es. Kann man sich in einem depressiven Zustand als depressiv einschätzen? Sie meinen, sie könnten es, weil sie dann nur noch mit sich selbst beschäftigt seien und keine Gesellschaft ertragen könnten.

Wenn das so ist, müssten viele Ehepartner depressiv sein, die sich Tag täglich überwinden müssen, den Menschen an der Seite zu ertragen, ihn aber nicht verlassen können.

„Denkst du an Selbstmord?“, frage ich ihn. Es vergehe kein Tag ohne einen solchen Gedanken. Ich fühle mich versucht zu fragen, warum er es dann nicht auch tue.
Er errät meinen Impuls. „Der Gedanke macht mich froh“, sagt er. „Ich weiss, ich habe eine Alternative offen, für den Fall, dass ich der Meinung bin, es übertrifft meine Leidensfähigkeit.“

„Und dann?“, frage ich ihn. „Hast du keine Angst vor dem Tod?“
„Wer kann das schon von sich sagen“, antwortet er, „vor dem Tod vielleicht nicht, aber vor dem Leiden und dem Kampf davor.“

„Aber da gibt es Mittel, die Ängste zu unterdrücken, Alkohol, Drogen, Tranquilizer“, fährt er fort.

„Gibt es noch Freude am Leben in dir?“, frage ich ihn.

Himmel hoch jauchzend oder zu Tode betrübt, diese Gegensätze kenne ich kaum“, antwortet er. „Natürlich habe ich noch ein wenig Genussfähigkeit in mir, sie ist aber nicht besonders ausgeprägt.“

„Was hält dich denn am Leben, was gibt dir den nötigen Halt?“, frage ich ihn.

„Da gibt es schon ein paar Dinge“, und nach einer kleinen Denkpause fährt er fort: „Ich möchte eben keine Schuldgefühle, keine Trauer, bei denen hervorrufen, die mir nahe stehen, wäre die eine Antwort. Und die andere, banalere: Gleichgültigkeit, Treiben lassen, das so einfache „Scheiss egal“-Gefühl!“ Und ergänzt nach einer Weile: „Ein wenig Neugierde, wie sich alles so entwickelt in der Welt, in der Politik, im Zusammenleben, in der Technik. Und – vielleicht gibt es ja auch noch Erfahrungen, die ich machen möchte und die mich interessieren könnten.“

„Was soll ich da jetzt von halten?“, frage ich mich. „Abgeschlossen hast du nicht mit dem Leben, vielleicht ein wenig überdrüssig, depressiv würde ich das auch nicht nennen.“

„Ich nehme mich jedenfalls nicht so wichtig, glaube ich. Ob ich jetzt auf der Welt bin oder nicht, im Grunde ist das ziemlich egal. So schnell kann mich nichts wirklich erschüttern. Vielleicht haben die ja Recht, dir mir zu wenig oder keine Empathiefähigkeit nachsagen.“

„Ich habe jedenfalls nicht den Eindruck, du seiest gefühllos!“, sage ich.

„Das ist es ja gerade! Wir alle spielen unsere Rolle im Leben und oft ist uns nicht mehr bewusst, dass es eine Rolle ist, denn wir spielen sie so, dass sie ehrlich und lebensecht 'rüberkommt.“

„Du meinst, keiner weiss im Grunde von sich selbst, wer er in Wirklichkeit überhaupt ist?“, frage ich erstaunt.

„Wenn du das erkannt hast und auch erkannt hast, dass du daran nichts ändern kannst, bist du schon einen ganzen Schritt weiter, dann nimmst du das Leben nicht mehr so ernst!“, antwortet er.

„Weisst du, welcher Spruch mir gerade so einfällt?“, sagt er. „Wer die Gefahr sucht, kommt darin um!“

„Was willst du damit sagen?“, frage ich.

„Wie wäre es mit einer Urlaubsreise in ein Land, in dem man sich angeblich nicht sicher fühlen kann?“ fragt er.

„Hiesse das nicht, das Schicksal herauszuforden?“, frage ich zurück.

„Das zufällige Schicksal, oder den schicksalhaften Zufall?“ antwortet er verschmitzt.

„Wenn du unbedingt lebensmüde sein willst, viel Vergnügen! Da kann man bestimmt noch spannende neue Erfahrungen erleben.“

„Er’leb’nis würde ich das nicht nennen, gibt es überhaupt ein Wort dafür?“

„Das ist genau das, was die Künstler ausdrücken wollen, die den Todestanz dargestellt haben!“

„Die Lebenskraft reicht uns eben nicht mehr hin, herüber, herauf über den Rand zu kommen. Man bleibt hilflos, einsam hängen wie in einem ungeheuren Rauchfang im Weltabgrund... Man lässt los. Ein Traum, ein violetter vielleicht, wenn Sie wollen, von einem seligen, vergessenheitstrunkenen Absturz. Fratzenhaft das alles, grimmassierend... Ein elektrischer Einstich jeder Sternblick. Alles Leben ist gläsernes Schweben... Über metallisch fliessende Traumsteppen hin uferloses Tonwehen... Die Atmosphäre, die Atmosphäre, die ist es... Sie ist zwangshaft... Ein unheimlich unsichtbarer, mörderischer Fetisch... Unentrinnbar umklammert von einer mystischen Gefühls- und Denkzange: ein mystischer Terror: man — kann nicht mehr." Johannes Robert Becher

"Man kann, siehst du doch! Es ist alles eine Frage der Perspektive!"
"Du meinst, die gerade noch erträgliche Leichtigkeit des Seins?"
"Es bringt Genugtuung, vor einem Abgrund zu stehen und die Wahl zu haben: Springen oder nicht!"

"Die Wahl haben wir immer. Oder etwa nicht?"

"Wir sind das Treibholz des Lebens. Es treibt uns dem Abgrund zu, aber es kann auf diesem Wege Stockungen geben, anderes Treibholz, das uns aufhält. Und dann hält es ein wenig länger, das Leben."

"Hoffen wir, dass es genussvoll andauert, nicht schmerzvoll!"

"Und abrupt endet, bevor man es so richtig wahrnimmt!"

"Beim Tanz des Lebens mit dem Tod!"

 

Quellen
Darstellung des Totentanzes in der Kirche "Maria im Fels", 15. Jh., Beram, Istrien/Kroatien, Foto vom Verfasser
J.R. Becher, (CHCl=CH)3As (Levisite)  oder Der einzig gerechte Krieg (1925)
http://nemesis.marxists.org

 


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