Textatelier
BLOG vom: 12.04.2016

Der Frühling, die Birke, der Säugling und unser Bewusstsein

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland


Wir sind im April und am Beginn des Frühlings. Man kann feststellen, dass manche Bäume bereits wieder grüne Blätter, manche auch Knospen haben, andere dagegen noch blattlos und kahl sind. „Wahrscheinlich sind es unterschiedliche Arten!“ stellt jemand fest und die Aussage wird durch ein Kopfnicken bestätigt und bekräftigt.

Ein Baum ist ein Baum ist ein Baum? Was sehen wir? Wir sehen einen Baumstamm, umgeben mit einer Rinde, der scheinbar aus der Erde herauswächst. Wir sehen nicht – oder nur in Ansätzen -, dass der Baum durch eine Wurzel im Boden haftet. Wir sehen, dass der Baum vom Stamm aus rundherum Äste hat, die wiederum Zweige haben, die sich verjüngen. Wir sehen bei einigen Bäumen, dass an diesen Zweigen Blätter wachsen. Diese Blätter haben eine hellgrüne Farbe. An den Zweigen haben sich außerdem Knospen gebildet.

Wir sehen einen Baum und erkennen ihn als Baum. Bei näherem Hinschauen können wir manchmal, denn wir sind keine Fachleute, erkennen, was für einen Baum wir vor uns haben. Eine Birke ist einfacher zu erkennen, als eine Esche oder eine Buche.

Vor meinem Wohnzimmerfenster wächst eine Birke. Diese Birke hat eine besondere Form, denn ihr Blätterwerk spendet im Sommer Schatten. Unter diesem Baum stehen Gartenmöbel.

Als Kind haben wir gelernt, wie ein Baum aussieht, und dass wir alle Gebilde, die so aussehen, als Baum bezeichnen können. Sprechen wir über Bäume, erscheint im Hirn, etwa vor einem „geistigen Auge“ ein Bild, so wie wir uns individuell einen Baum vorstellen. In der Grundstruktur ist dieses Bild bei allen, die das deutsche Wort „Baum“ mit einer in der Natur vorkommenden Pflanzenart verbinden, gleich oder zumindest ähnlich. Zeige ich einer Person, die noch nie bei mir zu Hause war, ein Foto der Birke vor meinem Wohnzimmerfenster, wird sie die Birke als Baum erkennen, wegen der charakteristischen Rindenzeichnung wahrscheinlich auch als Birke, denn diese Person hat schon viele Birken gesehen, die zwar nicht alle gleich aussehen, aber die Charakteristika einer Birke vorweisen. Für mich ist diese Birke ein Individuum, das vor meinem Wohnzimmerfenster steht und nirgendwo anders in der Welt. Birken stehen überall, diese Birke nicht!

Ähnlich geht es einem Säugling, der sehr schnell die Mutter von anderen Personen unterscheiden kann. Dem Säugling begegnen viele verschiedene Personen, aber nur eine davon ist die Mutter.

Im Gehirn findet eine Integration von Bewusstseinsinhalten statt. Sie werden nicht willentlich gesteuert. So wie in dem Beispiel mit den Bäumen entsteht in unserem Bewusstsein aus den „subglobalen Ebenen“, in denen die Rinde, der Stamm, die Äste und die Blätter, als die äussere Erscheinung in Form und Farbe, eine Vorstellung, die zu dem Begriff „Baum“ führt, und bei der Birke zu der Erkenntnis eines speziellen Baumes.

„Bewusstsein ist das, was verschiedene Bestandteile gleichzeitig zusammenbindet, so dass sie als Teile eines umfassenden Ganzen erscheinen. Wenn man diese Ganzheit hat, erscheint einem eine Welt. Wenn der Informationsfluss aus unseren Sinnesorganen vereinheitlicht wird, erleben wir die Welt – Bewusstsein ist ‚Zusammenschau’.“ (S.258)

Zwei Richtungen treffen sich: einerseits, die Einsicht, dass man etwas denkt zu wissen und andererseits, dass die verschiedenen wahrgenommenen Merkmale von Gegenständen zu einer Ganzheit verbunden, also integriert werden.

Schon das sich noch in Entwicklung befindliche Gehirn eines Säuglings kann diese grossartige Leistung vollziehen und nahtlos miteinander verbinden, also die Unterscheidung zwischen der Mutter und anderen Personen treffen. Wobei beim Säugling zunächst noch keine Bezeichnung dafür da ist und sich erst langsam dafür das Wort ‚Mama’ im Hirn manifestiert.

Zuerst sind die Sinne aktiv, mit denen der Säugling die Person erkennt, die für ihn sorgt, die ihn am Leben erhält. Einerseits ist es Prägung in einer sensiblen Lebensphase, andererseits bildet sich daraus Erfahrung. Manche Männer, die auf der Straße Augenkontakt mit einem fremden Kleinkind bekommen, werden von ihm als „Papa“ angeredet. Die Mutter klärt es dann auf, dass es nicht der Papa ist, sondern jemand anderes. Der Informationsfluss der Sinne signalisiert dem Kind eine Beziehung zwischen Begriff und Inhalt, die noch nicht mit „der Zusammenschau“ des Bewusstseins und der sprachlichen Festigung des Begriffes „Papa“ zusammenpasst.

Vittorio Gallese, Professor für Humanphysiologie, geht von 3 verschiedenen Ebenen aus, die er unter den Begriff „shared manifold“ stellt (wörtlich: „geteilte Mannigfaltigkeit“), die phänomenologische, die funktionale und die subpersonale Ebene. Diese Ebenen benötigen wir, wenn wir mit Menschen interagieren.

„Die phänomenologische Ebene ist verantwortlich für das Gefühl der Ähnlichkeit – der Zugehörigkeit zu einer grösseren sozialen Gemeinschaft von Personen wie wir, wenn wir anderen Menschen begegnen. Die funktionale Ebene lässt sich mit verkörperten Simulationen der Handlungen beschreiben. Die subpersonale Ebene besteht aus der Aktivität einer Reihe von spiegelneuraler Schaltkreise.“ (S.256f.)

Es sind zum grössten Teile unbewusste Vorgänge, die in unserem Gehirn ablaufen:

„Eine unmittelbare Form erlebnismässigen Verstehens von anderen, die wechselseitige intentionale Abstimmung, wird durch die Aktivierung gemeinsamer neuronaler Systeme erreicht, der sowohl unsere eigenen Handlungen und Empfindungen als auch die Handlungen und Empfindungen anderer zugrunde liegen.“ (S.260)

Stimmt die Abstimmung überein, können wir unser Gegenüber verstehen. Wenn beispielsweise jemand noch nie in seinem Leben eine Birke gesehen hat (oder den sprachlichen Begriff nicht zuordnen kann), kann diese Person sich auch kein Bild davon machen. Die Abstimmung „funktioniert“ nicht. Das eben erwähnte Kleinkind kann den Begriff „Papa“ noch nicht einer einzigen Person zuordnen. Langsam lernt das Kind, „potenziell unendliche Ordnungsstufen der Intentionalität aufzubauen: ‚Ich weiss, dass du weißt, dass ich weiss…’ und so weiter.“ Und dabei spielt die Sprachfähigkeit, und auch darin die Fähigkeit aus einem unendlichen Zeichenvorrat eine unendliche Menge von Kombinationen zu erzeugen, eine bedeutende Rolle.

Wir können also auch deshalb kommunizieren, - und wenn Sie diesen Text lesen, kommunizieren Sie in gewissem Sinne mit mir, denn Sie partizipieren an meinen Gedanken - weil unser Gehirn über Bewusstsein verfügt, dessen Bestandteile bezüglich des Verstehens übereinstimmen. Dabei gibt es kulturell und geographisch  entstandene Unterschiede: Weil es in der deutschen Sprache nicht so viele Begriffe für „Eis“ gibt, wie etwa bei den Inuits, kommt eine „geteilte Mannigfaltigkeit“ nur bruchstückweise zustande.

„Der entscheidende Schritt in der Evolution des Menschen könnte durchaus darin bestanden haben, dass ein grösserer Teil des Körpermodells global verfügbar wurde – das bedeutet: zugänglich für das bewusste Erleben. Sobald man nämlich auf der Ebene des Bewusstseins ein Werkzeug als Bestandteil des eigenen körperlichen Selbst erleben kann, kann man auch die Aufmerksamkeit auf diesen Vorgang lenken, ihn optimieren, Begriffe über ihn bilden und ihn in einer wesentlich genaueren Weise kontrollieren.“ (S. 121)

Wir denken nicht an das, was in unserem Gehirn abläuft, wenn wir uns über die ersten Frühlingsboten freuen, die die Bäume uns zeigen. Wir können diesen persönlichen Eindruck mit anderen teilen. Dass das funktioniert, ist schon eine enorme Leistung unseres Gehirns!

Quelle:
Metzinger, Thomas, Der EGOTUNNEL, Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik, Piper, München, 2014

 


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