Textatelier
BLOG vom: 04.01.2016

Der Weg, die Flucht und das Ziel

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Deutschland

 

Die letzte Strophe aus dem Poem

“Stopping by Woods on a Snowy Evening” von Robert Frost lautet:

The woods are lovely, dark and deep,  
  But I have promises to keep,  
  And miles to go before I sleep,  
  And miles to go before I sleep.”
 
  Es gibt viele Übersetzungen des Gedichtes in andere Sprachen,
  ich versuche es einmal mit meinen eigenen Worten:
 
  „Die Wälder sind grossartig, dunkel und tief,
  Aber ich habe Versprechen einzuhalten,
  Und noch Meilen zu gehen, bevor ich schlafe.“
 
  Eine Übersetzung, die darauf Wert legt, die bei Frost so einprägsamen Endreime zu
  übertragen, könnte so lauten:

  „Die Wälder, so lieblich, dunkel, abgrundtief
  Aber da war das Versprechen, das mich rief,
  Und noch so weit zu fahren, bevor ich schlief.“

Für viele Zeitgenossen waren es am Vorabend zu Weihnachten und Silvester lange Wege, die zu fahren waren, bis zu den Familienangehörigen oder zu den Freunden oder einfach nur nach Hause. Für viele Flüchtlinge waren es lange, ermüdende Strecken, die sie ans Ziel ihrer Wünsche in ein sicheres Land führten. Lockten die Wälder am Wegesrand zu einem Spaziergang? Spürte man den Druck des Versprechens, so schnell wie möglich anzukommen? Noch vor der Nacht, in der man müde ins Bett sinken konnte?

Also keinen Abstecher in den tiefen, dunklen Wald, kein Erspüren der Geheimnisse, die er vor uns verbirgt. Ein Gefühl des Getriebenseins, gepaart mit dem Wunsch, bald ausruhen zu können. Nicht nach rechts oder links schauen, nicht dem Verlangen, der Zivilisation ganz zu entfliehen, und sei es nur für ein paar Stunden, nachgeben.

Du hast es versprochen, und was man versprochen hat, muss man auch einhalten! Also, nimm’ den Fuss nicht vom Gaspedal, der Weg ist noch weit und langsam schleicht sich die Müdigkeit in die Knochen. Also, bringe uns zum Ziel unserer Träume!

Das erinnerte mich an ein Gedicht von Bertolt Brecht:

Ich sitze am Strassenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?“

Ob „ich“ erkannt hat, dass es keinen Ausweg gibt, auf dem Weg von der Geburt bis zum Tod? Kein Paradies, keine Erlösung? Auch wenn ich möchte, es führt zu nichts, ich bleibe immer nur ich!

Ein niederländisches Lied, interpretiert von Jenny Arean und Frans Halsema, besingt die Ausweglosigkeit; ein Lied, das ursprünglich aus dem Musical von der bekannten niederländischen Schriftstellerin Annie M.G. Schmid (Musik Harry Bannink) mit dem Titel „En nu naar bed“ („Und jetzt ins Bett“) aus dem Jahre 1971 stammt, und 1977 auf eine Schallplatte gepresst worden ist, erscheint immer noch sehr aktuell.

Hier die erste Strophe:

„Vluchten kan niet meer, 'k zou niet weten hoe
Vluchten kan niet meer, 'k zou niet weten waar naar toe
Hoe ver moet je gaan
De verre landen zijn oorlogslanden
Veiligheidsraad, vergaderingslanden, ontbladeringslanden, toeristenstranden
Hoe ver moet je gaan
Vluchten kan niet meer.“

„Flüchten geht nicht mehr, ich würde nicht wissen, wie
Flüchten geht nicht mehr, ich würde nicht wissen, wohin
Wie weit musst du gehen
Die fernen Länder sind Kriegsländer
Sicherheitsrat, Verhandlungsländer, Entlaubungsländer, Touristenstrände
Wie weit muss man gehen
Flüchten geht nicht mehr.“

Wohl gemerkt, hier geht es darum, dass wir, die Menschen aus den industrialisierten Ländern, keine Möglichkeiten mehr haben „zu flüchten“! Aber auch für viele aus Syrien, aus dem Irak oder Afghanistan geht Flüchten nicht mehr, sie sind den Gefahren, den Eroberern und dem Schicksal ausgeliefert.

Søren Kierkegaard drückt das so aus:

„Was wird kommen?
Was wird die Zukunft bringen?
Ich weiss es nicht, ich ahne nichts.
Wenn eine Spinne von einem festen Punkt
Sich in ihre Konsequenzen hinabstürzt,
so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich,
in dem sie nirgends Fuss fassen kann,
wie sehr sie auch zappelt.
So geht es mir; vor mir stets ein leerer Raum;
Was mich vorwärts treibt, ist eine Konsequenz,
die hinter mir liegt.
Dieses Leben ist verkehrt und grauenhaft,
nicht auszuhalten.“

Es gibt keine absolute Sicherheit. Niemand weiss, was das Leben für Überraschungen bringt. Niemand weiss, wen es trifft, wen welches Schicksal ereilt, welche Krankheiten kommen, wer Angehörige verliert, wer aus der Heimat fliehen muss, welche Bombe gerade mich wegrafft, in welchen leeren Raum wir gestossen werden. Oder: wem es einfach nur gut geht!

Dennoch, um zu leben, brauchen wir „ungeduldig zappelnd“ ein Ziel vor Augen, ob wir es gerne anstreben oder nicht, ob es uns Erfüllung bringt oder nicht, ob wir wollen oder nicht.
Und die Hoffnung, dass alles „gut“ wird. Vielleicht kann ein „Abstecher“ in die Natur helfen, das Wohin zu erkennen, vielleicht bei einem Gang in die Wälder an einem verschneiten Abend oder die Beobachtung, dass die Spinne immer wieder das Ziel erreicht!

 

Quelle
Sören Kierkegaard

 


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