Textatelier
BLOG vom: 31.08.2013

Kugelschreiber, Tinten-Auslaufmodelle, Dokumentenechtheit

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Ich bin absolut dafür, dass man Narren von gefährlichen Waffen fern hält.
Beginnen wir mit Schreibmaschinen.“
Frank Lloyd Wright
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Die Handschrift ist ein Auslaufmodell; damit geht ein Stück Kultur verloren. Man wählt heutzutage eine Schriftart, deren Grösse und tippt weiche, nachgiebige Tasten. Auf einem kleineren oder grösseren Bildschirm erscheint die Buchstabenfolge so, wie man sie eingegeben hat: Einzelwörter, Sätze, Texte. Nonsens und Lesenswertes.
 
Das Schreiben ist in mehrfacher Hinsicht eine Kunst. Die Handschrift offenbart vieles vom Wesen des Schreibers, ob er grosszügig oder kleinlich ist, intro- oder extrovertiert, arrogant, ehrgeizig, scheu, gesellig, Sinn für Ästhetik hat (etwa durch die Blattaufteilung) – die Wissenschaft der Graphologie beschäftigt sich damit; jeder Schnörkel wird zum Indiz.
 
Die Wahl des Schreibwerkzeugs trägt viel zum Schriftbild bei, ähnlich wie der Pinsel eines Malers. Der Faserschreiber ist in der ostasiatischen Schreibkunst ab 1964 (von der japanischen Firma Pentel entwickelt) eine Weiterentwicklung des Pinsels. Die Schreibspitze bestand anfänglich aus gebündelten, geklebten, getrockneten und geschliffenen Acryl-, später aus Nylonfasern. Die Schreibspitze war stabiler und besser zu beherrschen als beim Pinsel. Der Tintenfluss wurde über 2 Kapillarsysteme ermöglicht. Anschliessend entstand daraus der Fineliner, bei dem die Schreibspitze mit Metall ummantelt ist, gefolgt von der Rollerballmine (1976) mit Belüftungssystem von Schmidt Feintechnik, einem offensichtlich kreativen Unternehmen. Das Nachfliessen von Luft muss mit hochpräzisen Belüftungssystemen bei allen Minen und natürlich auch bei Füllhaltern, die mit Flüssigkeiten arbeiten, gewährleistet sein, damit diese überhaupt ausfliessen können.
 
Viel älter sind Das Schilfrohr und der Gänse- oder Vogelkiel, den man selber durch Aufweichen im Wasser, Eintauchen in heissen Sand und Zuschneiden funktionstauglich machen musste. Dies waren vor etwa 2 Jahrtausenden die Vorläufer der Schreibfedern aus Metall, sogar aus Gold, die man in einen Federhalter steckte.
 
Noch während meiner eigenen Schulzeit hantierten wir damit, nicht nur geschriebene Spuren aus dem Tintenfass hinterlassend. Zeigefinger, Mittelfinger und Daumen der rechten Hand waren oft so königsblau eingefärbt wie die hölzernen Schulbänke; mehrlagige Tintenlappen kamen häufig zum Einsatz. Füllfederhalter, 1884 in den USA erfunden, liefen beim Fliegen in grossen Höhen aus.
 
Eine Vereinfachung brachten alsdann die Kugelschreiber, welche in den 1950er-Jahren ihren eigentlichen Siegeszug antraten. Die Tinte floss einigermassen gleichmässig neben der rollenden Kugel heraus; doch besonders bei Billigmodellen bestand keine Gewähr dafür, dass das Ausfliessen nicht auch zum unerwünschten Zeitpunkt geschah es nicht doch noch zu einem Geschmier kommen würde. Dann wurde die Schreiblänge bis 1 km entsprechend kürzer. Weil ich beim Wechsel von Aufschreiben und Fotografieren bei journalistischen Einsätzen die Kugelschreiber immer in die linke Brusttasche meines Hemds versorgte und manchmal bei Kugelschreibern, deren Vorderteil mit der Schreibkugel nicht eingezogen werden konnte, in der Hitze des Gefechts die Plastikkappe aufzusetzen vergass, ruinierte ich manch ein Hemd, was bei meiner sparsamen Frau immer ein Drama auslöste. Täter waren vor allem die BIC-Kugelschreiber von Baron Marcel Bich aus Paris, die es seit 1950 als Einweg-Kugelschreiber gibt (da wird also keine Mine ersetzt). Wegwerfzeug.
 
Daneben gibt es schon lange Kugelschreiber in edler Ausführung wie etwa seit 1965 den „Flighter45“ im Edelstahlkleid und „Jotter“ von Parker, der bei häufigem Gebrauch jene Patina ansetzte, die lange Geschichten erzählt.
 
Als Erfinder des Kugelschreibers gelten die Ungarn László und Georg Biró, der 1938 in Argentinien ein Patent erhielt, obschon John J. Loud schon 1888 das erste Patent angemeldet hatte und auf der Leipziger Messe 1933 der „Exact“ vorgestellt worden war. Birós Leistung bestand insbesondere in einer Paste auf Ölbasis, deren Viskosität ein Kapillarität eine gleichmässige Versorgung der Schreibkugel in der anfänglich gewendelten Wechselmine gewährleistete. Doch die Kinderkrankheiten waren noch längst nicht überwunden: Der Wunderschreiber schmierte, lief aus, die Schrift lief durchs Papier und verblasste in der Sonne – von Dokumentenechtheit keine Spur. Banken und Schulen wollten damit nichts zu tun haben. Doch Feinmechaniker und Hersteller von präzisen Uhrenteilen machten sich daran, dem Kugelschreiber alle unerwünschten Flausen auszutreiben. Den wesentlichsten Beitrag dazu steuerten wahrscheinlich die Gebrüder Schmidt aus St. Georgen D 1948 bei, die ein alltagstaugliches Gerät daraus anfertigten. Der Schreiber aber musste möglichst senkrecht gehalten werden, ansonsten der Pastennachschub ins Stocken kam.
 
In den 1950er-Jahren war der Kugelschreiber mit einer Kugel aus Stahl, Wolframkarbid oder Rubin- bzw. Siliziumkarbid derart perfektioniert, dass aus nach einer DIN-Norm hergestellt werden konnte und Dokumentenechtheit garantierte. Die A3-Mine wurde zur Standardmine. Die Spitze einer hochwertigen Mine (auch Grossraumminen) enthält einen Ring, der auf 1/1000 mm genau geschliffen ist.
 
Statt der Paste werden manche Kuli auch mit flüssiger Tinte fertig, ohne aber in Bezug auf die Strichlänge mit dem Pastenkugelschreiber konkurrenzieren zu können. Besonders berühmt war das Parker-Format (ab 1954), das bei jedem Betätigen der Mechanik um 90 ° gedreht wurde und so eine Abnutzung des Kugelbetts vermeidet. Und bald tauchten aus St. Georgien Mehrfarbkugelschreiber auf. Es gibt sogar Kugelschreiber, die im Temperaturbereich von -50 °C bis +200 °C funktionieren. Bei vielen Kugelschreibern wird heute die Schreibspitze teleskopartig ausgefahren, und das Design schwang sich zu vielen Kapriolen auf.
 
Heute dienen Kugelschreiber als populäre Firmengeschenke mit eingeprägtem Firmenname; ich habe gerade einen silbergrauen, mit Schreiber vom Hotel „Einstein St. Gallen“ in Gebrauch. Zudem ist auf meinem Schreibtisch ein Stylograph („Schneider Topliner 967“) mit metallgefasster Schreibspitze in Aktion, der 0,4 mm breite Striche aufs Papier legt und der für etwa 65 Rappen pro Stück doch erstaunliche Leistungen vollbringt. Die Tinte fliesst durch das Röhrchen aufs Papier. Die Kapillarkraft hilft bei einem gleichmässigen Tintennachfluss aus dem Tank mit.
 
Die Auswirkungen des Schreibens mit einer (Füll-)Feder oder einem Kugelschreiber in all seinen Abwandlungen hat Auswirkungen auf die Schrift. Der Kuli verleitet zum schnellen Schreiben, woraus man Gefahr läuft, zur Unleserlichkeit zu finden; das Schriftbild verliert an Schärfte, Individualität und Aussagekraft. Man kann keine Feder mehr wählen, die einem als Krone des Schreibgeräts so perfekt in der Hand liegt. Je nach Druck, den man auf den Füllfederhalter gibt, wird die Schrift schmaler oder breiter; der Kugelschreiber aber hinterlässt eine gleichmässige und immer gleich breite Schrift, einen ebenmässigen und damit langweiligen Duktus.
 
Zurzeit fabrizieren alle mir bekannten Füllfeder-Produzenten auch verschiedene Kugelschreiber-Sortimente (und Drehbleistifte, so auch Caran d’Ache, A. T. Cross, Alfred Dunhill, „élysée“, Graf von Faber-Castell, Lamy, Montblanc, Hervé Oblig, Omas, Omyacolor, Pentel/Europentel, S. T. Dupont, Waterman, Yard-O-Led usf. – oft sind es Meisterwerke und Schmuckstücke in einem. Mein Prachtstück ist ein Füllfederhalter, dessen Gehäuse aus Weiss- und Rotgoldfäden geflochten ist und den ich 1988 bei einem Schreibwettbewerb zum Thema „Edelsteine“ von der Genfer Filiale des Pariser Juweliergeschäfts Boucheron, das heute zur Gucci-Gruppe gehört, aber noch unter dem herkömmlichen, über 150 Jahre alten Namen existiert, gewonnen habe. Wenn man damit schreibt, tut man es schon fast andächtig. Zu meinen bevorzugten Modellen gehört auch das Sterlingsilber-Ciselé von Parker („Sonnet“), zumal ich gern schwere Geräte in der Hand haben, die Kraft verströmen und Kraft erfordern. Auch Montblanc konstruiert wunderbare Geräte.
 
Früher hat man alle wichtigen Dokumente mit Feder und Tinte unterzeichnet. Kürzlich hatte ich in einem Notariat Urkunden zu unterzeichnen, und dafür lagen gewöhnliche Kugelschreiber von guter Qualität bereit. Ich fragte den Notar, ob das denn mit der Dokumentenechtheit kein Problem sei. Das sei kein Thema mehr, antwortete die Fachperson. Offensichtlich erfüllen die heutigen Kugelschreiber nach DIN-Qualität die Erfordernisse nach Dokumentenechtheit problemlos. Dazu gehören die Wischbeständigkeit, Lichtechtheit und eine gewisse Wasser- sowie Lösungsmittelbeständigkeit, und sie müssen dem Radieren standhalten (Norm ISO 12757-2). Man muss dann um ausgasende PVC-Klarsichthüllen einen Bogen machen.
 
Soweit also eine kleine Geschichte des Schreibens, das ich zu meinem Beruf gemacht habe und das mich dementsprechend in all seinen Ausprägungen interessiert und fasziniert. Mit Bedauern stelle ich fest, dass meine Handschrift seit der Benützung von Schreibmaschinen, worunter ich auch die Tastatur des Computers verstehe, gelitten hat. Und so verspreche ich Besserung und Schriftverbesserung – ich werde am Stehpult wieder vermehrt Notizen machen, Couverts anschreiben, um den Kontakt mit meinen Schreibgeräten, die zwischen 3 Fingern Platz finden und sich so leicht führen lassen, nicht zu verlieren.
 
Das sind allerdings nur Hilfsmittel: Was zählt, ist, was sie festhalten, verbreiten, ob sie als Waffen oder zur Verbreitung von Streicheleinheiten, als Werkzeuge für Mitteilungen oder für vergnügliches Tun eingesetzt werden. Sie begleiten uns in neue Sphären.
 
 
Quellen
Verschiedene Ausgaben der Zeitschrift „Scriptum. Die schönsten Schreibgeräte“, u. a. „Präzision bis in die rollende Spitze“ von Dietmar Geyer (Edition 1997).
 
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