Textatelier
BLOG vom: 07.07.2012

Kollision auf der N 340 und ihre Folgen in Andalusien

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
1. Teil: Die Fahrt in die Sommerferien
 
Die Familie fuhr zu viert im Auto von Madrid nach Conil de la Frontera in Andalusien. Sie wollte, wie jedes Jahr, die Sommerferien in ihrer Villa beim Meer verbringen. „In einer halben Stunde sind wir dort,“ sagte ihr Vater vergnügt. „Warum reservieren nicht zuerst einen Tisch im ‚El Colorado’ für eine Paella?“ fügte er hinzu.
 
Es hatte viel Verkehr auf der notorisch gefährlichen Autobahn N340. Er fuhr, wie letztes Jahr, am Restaurant auf der gegenüberliegenden Strassenseite vorbei zur Stelle, wo er das Auto kehren konnte und wartete auf eine Verkehrslücke. Ein schwer beladener Lastwagen näherte sich langsam. Eine Autoschlange hatte sich hinter dem Vehikel gestaut. „Jetzt!“ ‒ drückte der Vater aufs Gas, eben als ein Auto zum Überholungsmanöver ausscherte.
 
Frontalkollision. Die Lokalzeitung „El Diario de Cadiz“ berichtete anderntags, dass der Unfall 3 Todesopfer gefordert hatte. Nur die 22-jährige Tochter und der Lenker des anderen Autos wurden schwer verletzt geborgen und von der gleichen Ambulanz ins Spital von San Fernado überführt. Die N340 blieb stundenlang beidseitig gesperrt.
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Schicksalsschläge geschehen im Leben rasch wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ihre Folgen lassen sich nur durch die Zeit deuten – im Vergleich zwischen dem Zuvor und dem Nachher, woraus sich keine Regeln ableiten lassen. Hier sei das Zuvor vorangestellt. Wie sonst könnte das Nachher verständlich werden?
 
Die junge Beatriz wuchs im sicheren Familienschoss auf, liebevoll umsorgt und verwöhnt, genau so wie ihr jüngerer Bruder. Ihr spielerisch kokettes Naturell erblühte wie eine Rose, bildhübsch, wie sie war. Sie hatte viele Freundinnen und war innerhalb und ausserhalb des Hauses beliebt und gefiel den Burschen auf der „La Rambla“*. Ein bisschen flatterhaft begann sie ein Studium und wechselte es mehrmals nach kurzer Zeit. Sie wollte sich nicht festlegen und behielt sich die Optionen offen. So kostete sie das Leben in seiner Fülle, spielte viel Tennis, tanzte gern und kleidete sich modebewusst. Eine ältere Dame unterrichtete sie, wie es sich für eine junge Dame aus gutem Haus gebührt, im Klavierspiel. Fingerübungen langweilten Beatriz. Hinterm Rücken ihrer Klavierlehrerin klimperte sie am liebsten Tangos. Und das, was sie am liebsten tat, glückte ihr am besten.
 
Die Sommerferien waren ein Höhepunkt in ihrem Leben. Sie lud jeweils ihre Freundinnen in die Familienvilla ein. Sie sonnten sich am Strand, spielten Ball und genossen Ausfahrten in Segelbooten auf dem vom Wind gewellten Meer. Die Kollision auf der N340 vernichtete mit einem Schlag Beatriz’ Ferienpläne und noch viel mehr.
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Monatelang lag Beatriz in der Intensivstation im Spital und wusste nicht, was mit ihr geschehen war. Ihr Leben war in der Schwebe. Sie überstand eine Reihe von Notoperationen und wurde künstlich im Koma gehalten und ernährt. Endlich war es soweit, dass Beatriz in eine Klinik in Madrid eingeliefert werden konnte. Dort erwartete sie viele Operationen ihres zerschmetterten Gesichts. Sie trug eine Maske, und die Dosis der Sedative wurde verringert. Ein schlimmes Erwachen stand ihr bevor, die selbst psychiatrische Umsicht kaum nennenswert mindern konnte.
 
Die Verbände wurden regelmässig gewechselt. Die Wunden verheilten. Ihre Gesichtsmaske wurde abgehoben. In Beatriz’ Krankenzimmer fehlten die Spiegel. 2 Krankenschwestern führten sie wie eine Somnambule im Spitalgarten herum. Ihre Erinnerung an den Unfall waren wie ausgemerzt mitsamt der langen Autofahrt von Madrid nach Conil de la Frontera. Im Trauma verkriecht sich und schlummert das Gedächtnis im dunklen Schneckenhaus des Vergessens.
 
Beatriz war jung, und ihr Lebenswille flackerte auf, von Emotionen, wie von Irrlichtern gestreift: Sie sah sich wieder im Elternhaus mit den Spuren ihrer Vergangenheit. Eine Nonne setzte sich schweigsam neben sie und streichelte hin und wieder behutsam Beatriz’ Handrücken. Fehlte der Spiegel in ihrem Zimmer, gab es die Spiegelung des Fensters. Dort betrachtete sich Beatritz heimlich. Sie musste sich an ihr verschandeltes Gesicht gewöhnen, so schwierig es ihr auch fiel.
 
Die Heimkehr in ihr Elternhaus stand an. „Lässt alles unverändert, wie es ist“, bat Beatriz ihre Verwandten. Sie wolle vorderhand auch keine Besucher im Haus empfangen, bedingte sie sich aus. Sie durchschritt die Zimmer und empfand wehmütig, wie schön sie es hier während 22 Jahren gehabt hatte. Die Stille allein im Haus tat ihr gut. Viele an ihrer Stelle hätten sie nicht ertragen und mit ihrem Schicksal gehadert.
 
Welchen Weg in die Zukunft sollte sie einschlagen? Dieser Gedanke beschäftigte sie zunehmend im Verlauf der Wochen. Eines Tages öffnete sie ihren Kleiderschrank, und ihre Finger glitten über die Stoffe ihrer Garderobe. Das ist besser als ein Nonnengewand, schloss sie. Wer erkennt hinter einem hässlichen Gesicht die innere Schönheit? Niemand kann sagen, ob sie sich diese Frage gestellt hatte oder nicht, es sei denn ein heimlicher Betrachter ihrer veränderten Umstände.
*
Der ebenfalls schwer verletzte Fahrer war weitaus glimpflicher davongekommen und hatte sich inzwischen wieder in seine Alltagsgewohnheiten eingefunden. Hin und wieder wetterleuchtete in ihm die Frage: Was ist aus der jungen Frau geworden? Niemand hatte diesen Unfall verschuldet, hielt das Protokoll fest. So gab es für ihn kein Schuldgefühl, das der Reue bedurft hätte. Und dennoch … 
 
2. Teil: Wandlung und Wanderung
 
Und dennoch verging ein gutes Jahr, ehe sich Antonio aufraffte und seinen Brief an Señorita Beatriz richtete und andeutete, weshalb er sie treffen möchte. Dabei erwähnte er, dass er öfters geschäftlich in Madrid sei. Sie blieb ihm lange die Antwort schuldig. Gegenwärtig möchte sie lieber von einem Treffen absehen, teilte sie ihm schliesslich höflich mit.
 
Beatriz’ Vorliebe für Mode bestimmte die Wahl für ihre zukünftige Fachausbildung, die u. a. Textilentwürfe, Farbenlehre, Stoffdruck und deren Verarbeitung umfasste. Die Grundausbildung dauerte 3 Jahre. Ein anerkanntes Modehaus bot ihr eine temporäre Stelle, die auf ihren Ausbildungsweg zugeschnitten war.
 
Als geselliges Wesen, fand sie leicht Anschluss an Kolleginnen, woraus sich neue Freundschaften formten. Beatriz war wieder in ihrem Element, schickte sich enthusiastisch in ihre gewählte berufliche Laufbahn und gewann viele Auszeichnungen. Nebst ihren persönlichen Fortschritten hatte sich auch jene der Nachbehandlung von Hautschäden, dank der neuen Methoden der Hautverpflanzung, entwickelt. Zwar verhalfen ihr die kosmetischen Eingriffe zu keinem neuen Gesicht, doch schenkten sie ihr frisches Selbstvertrauen im Auftreten in der Gesellschaft. Somit gewann Beatriz ihr Reifezeugni, persönlich und beruflich. Auch gewann sie etliche Preise für ihre farbenfrohe Designs. Ein Atelier für Theaterkostüme lud sie als freie Mitarbeiterin ein. Ihr Weg durchs Leben war nicht nur gebahnt, sondern erst noch in ihrem Namen Beatriz eingebettet – „Lebensreise“ bedeutend.
 
Nicht mehr von ihrer einstigen Schönheit berückt, wie damals auf der Rambla, lockte ihr Erfolg Männer an. Sie widerstand jedoch hartnäckig allen Annäherungen. Ihr Haus blieb weiterhin für Besucher geschlossen. Das war und blieb ihr Refugium, wo sie ihren Gedanken nachhing. Dort lebten ihre Erinnerungen auf, im schroffen Kontrast zu ihren von der Gegenwart bestimmten Aufgaben ausserhalb ihres Hauses.
 
Wie kam es, dass sie sich manchmal beobachtet fühlte? Sie fing hin und wieder einen scheu auf sie gerichteten Blick durch die Menge auf. Eine Modeschau in Paris wurde vorbereitet. Die neue Kollektion, worunter einige ihrer Kreationen, wurde strengstens vor den vielen Raubrittern im lukrativen Modehandel bewacht.
 
„Darf ich vorstellen?“ wandte sich der Direktor eines Modehauses an Beatriz, der ihre neuen Entwürfe in seiner Kollektion aufgenommen hatte. Er stellte ihr einen Mann mittleren Alters schlicht und einfach als „Antonio“, Direktor der Tailormade Travel Services vor, der mit dem abgesicherten Transport der spanischen Kollektionen von Madrid nach Paris beauftragt war.
 
„Ich bin bloss eine Randfigur“, sagte Antonio scheu und reichte ihr die Hand, ehe er sich bescheiden in die Menge zurückzog. Antonio ist ein geläufiger Name in Spanien.
 
Die Vernissage nahm an diesem Abend ihren Verlauf, von der Prominenz besucht. Beim Buffet begegnete sie nochmals Antonio, der ihr artig ein Glas Champagner reichte. Kaum hatte sie ihm gedankt, war er wieder spurlos in der Menge verschwunden. Vollbeschäftigt, wie Beatriz war, mass sie dieser kurzen Begegnung keine Bedeutung zu.
 
Die Presse strich besonders die erfolgreiche Kollektion der „mysteriösen Modeschöpferin“ hervor, „die sich immer wieder hinter den Kulissen verzieht und als publikumsscheu gilt“. Zuschriften, die ihre Kreationen lobten, wurden in ihren Briefkasten gestopft. Achtlos legte sie den Stapel der Zuschriften auf das Tischchen im Vorzimmer ihres Hauses, dabei fiel eine grosse Kartonkarte auf den Teppich. Sie hob sie auf. Es war ein Originalaquarell von Igort, Guappo genannt, und für die „Galleria d’Arte Forni“ in Bologna entworfen. Die harmonisch aufeinander abgestimmten Farben der Karte aus Künstlerhand zeigen einen Mann im Profil mit Hut und wehmütig geschlossenen Augen. Sie kehrte die Karte um und bemerkte die Unterschrift von „Antonio de M.“ mit dem Vermerk: „Darf ich Sie nach so vielen Jahren treffen?“ Verwundert stellte Beatriz die Karte auf den Kaminsims.
 
Entgegen ihrer Gewohnheit verdankte Beatriz die Karte eine Woche später und willigte zu einem Treffen mit ihm auf der Terrasse eines Cafés auf dem Plaza Major in der Madrider Stadtmitte ein. So scheu wie zuvor erschien Antonio und setzte sich ihr gegenüber. Fragend schaute sie ihm ins Gesicht mit den ansprechend ebenmässigen Zügen. Endlich löste er sich zögernd aus seinem Schweigen. Sie ermunterte ihn kopfnickend, als er ihr versicherte, dass er nicht gekommen sei, um über den Autounfall zu sprechen, sondern um sein Mitgefühl mit ihr zu teilen. „Ich bewundere, wie Sie ihr Leben in neue Bahnen gelenkt haben“, fügte er verhalten hinzu.
 
„Und was schwebt Ihnen vor?“ fragte sie ihn beinahe schroff. „Eine andalusische Wanderung mit Ihnen“, gestand Antonio, hinzufügend „un viaje filosòfico segùn la obra ‚El Espectaror’ (Buch des Betrachters) de José Ortega y Gasset’“, antwortete er und holte das Werk aus seiner Tasche und überreichte es ihr.
 
„Das kann nicht wahr sein“, entfuhr es Beatriz überrascht. „Ortega y Gasset war der Lieblingsphilosoph meines Vaters; dieses Buch habe ich in seiner Bibliothek. „Eine Wanderung haben Sie gesagt – meinten Sie damit bloss eine imaginäre?“ wollte sie wissen. „Nein, verbunden mit einer wirklichen Wanderung durch Andalusiens Herzland. Wenn es Ihnen angenehm ist, werde ich die Etappen dieser Wanderung vorschlagen.“
 
Sie nickte beistimmend.
*
Die Ferienzeit näherte sich. Viele Geschäfte blieben ab Juli bis Mitte August geschlossen. Antonio hatte kleinere Orte vorgemerkt, abseits der Küste und Touristenstädten wie Sevilla und Cordoba, auf Landstrassen erreichbar, worunter Medina Sidonia, Arcos de la Frontera, Alcalá de los Gazules, Ubrique – teils in den Sierras (Bergketten) eingebettet. Gewisse längere Strecken könnten mit einem lokalen Pferdegespann zurückgelegt werden, schlug Antonio vor. So begann ihr gemeinsamer Streifzug durchs unverfälschte Andalusien. Leider kann sie in der Kurzgeschichte nicht gewürdigt werden.
 
Damit begann für Beatriz und Antonio eine gemeinsame Lebensreise. Von einem Ort zum nächsten wuchs ihre gegenseitige Zuneigung. Um das zu verstehen, braucht es keine Philosophie, ausser dem Hinweis, wie das Glück manchmal aus der Tragik aufersteht.
 
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*Promenaden, wie es sie in Barcelona und anderswo in Spanien gibt.
 
 
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