Textatelier
BLOG vom: 23.05.2012

Märchen aus Indien: Lektion für den königlichen Säufer

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Niederrhein D
 
Christi Himmelfahrt (Auffahrt), hierzulande auch „Vatertag“ genannt, ist vorbei. (Schliesslich sollen die Väter auch einen Tag begehen dürfen, wie die Mütter den Muttertag.) Bei einem Waldspaziergang und auch beim Hin- und Rückweg kamen uns mehrere Trecker mit Anhängern entgegen, auf denen in der Mehrzahl Männer sassen, die teilweise laut gröhlend Alkohol konsumierten. Nur auf einem Wagen waren die Ehefrauen dabei. Der Vatertag wird also als Vorwand genommen, sich betrinken zu können, ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Ähnliches kann man auch bei den hier sehr beliebten Schützenfesten beobachten.
 
Alkoholkonsum wird in der Gesellschaft als normal angesehen. Oft werden diejenigen, die Alkohol strikt ablehnen, unter Druck gesetzt. Es gibt viele, die diesem Druck nicht standhalten und mittrinken, andere werden ausgegrenzt.
 
Ab und zu ein Glas Bier oder Wein kann nicht schlecht sein. Bei Alkohol ist es so wie bei anderen Dingen: Auf die Dosis kommt es an und hier vor allem auch auf den Grund, warum Alkohol getrunken wird. Seine Probleme ertränken zu wollen, ist auf jeden Fall kein guter Grund.
 
Der Gründe gibt es viele, die Menschen zum Alkohol greifen lassen. Die Entwicklung zur Abhängigkeit ist fliessend. Es gibt eine ganze Reihe von Literatur – auch im Internet ‒ zu den Entwicklungsstufen und zur Suchttherapie. Wichtig ist hier die Erkenntnis, dass Alkoholsucht nicht heilbar ist. Auch ein „trockener Alkoholiker“ ist nach 10 oder 20 Jahren noch immer gefährdet. Angeblich reicht da schon eine Praline mit Alkohol für einen Rückfall aus.
 
Alkoholsucht ist als Krankheit anerkannt. Das klingt zuerst einmal fremd, denn eine Krankheit bekommt man meistens ohne eigenes Verschulden, wobei ein falscher Lebensstil schon viel dazu beitragen kann. Also: Wenn es jemand von Anfang an ablehnt, Alkohol zu trinken, wird dieser auch nicht alkoholkrank. In der Literatur wird aber aufgeführt, dass die Gefährdung dazu unterschiedlich ist, z. B. wenn in der Familie, in der man aufwächst, bereits Alkoholmissbrauch üblich ist, ist die Chance, auch alkoholkrank zu werden, höher.
 
Das Problem Alkoholsucht besteht weltweit. In vielen Ländern gilt es als unmännlich, nicht zu trinken. So war es für mich äusserst schwierig, in Kiew (Ukraine) meinen Gastgebern verstehen zu geben, dass ich keinen Schnaps – und schon gar nicht aus Wassergläsern wie sie – trinken wolle, ohne sie zu beleidigen.
 
Möglicherweise hat der Alkoholmissbrauch auch etwas damit zu tun, ob die persönliche Situation als befriedigend empfunden wird oder nicht. Alkohol, besser gesagt Äthanol, ist der Stoff, der zur Abhängigkeit führt, wie alle anderen Betäubungsmittel auch. Er betäubt die Sinne und führt dazu, so lange der Rausch anhält, sich aus dem Alltag zu schleichen.
 
Auch in Schwellenländern wie Indien wächst der Alkoholmissbrauch. Es gibt für diejenigen, die sich einen Besuch in einer Bar nicht leisten können, kleine Läden, die Alkohol aller Art verkaufen. Über Tag kann es sein, dass einem der Kauf von Bier z. B. verwehrt wird, abends sind diese kleinen Läden meistens gut besucht, und der Alkohol wird direkt konsumiert.
 
Ich habe in einem früheren Blog („Der indische Alltag und der Schlaf der Gerechten“) darüber geschrieben, dass indische Männer auf der Strasse mitten im lauten Verkehr fest schlafen können. Meine indischen Gesprächspartner vermuteten sofort, dass die Schläfer betrunken gewesen sein müssten, was ich weder bestätigen noch dementieren konnte, gerochen habe ich jedenfalls nichts davon. Die Vermutung zeigt aber, dass das Problem Alkoholmissbrauch in Indien ein Thema ist.
 
Deshalb fand ich es auch interessant, dass eine meiner Studentinnen in Bangalore über Alkoholmissbrauch ein Märchen geschrieben hat, und zwar ohne einen Auftrag meinerseits, vor allem, um den Gebrauch der deutschen Sprache in schriftlicher Form zu üben. Sie hat mir erlaubt, den Text zu veröffentlichen:
 
Hans und der König
Es war einmal ein König, der über eine himmlische Insel herrschte. Die Insel war gesegnet mit bunten Vögeln, farbenfreudigen Blumen und grünen Bäumen. Der Boden war so ertragreich, dass die Bauern mit ihrem grünen Daumen viele gute Ernten einbringen konnten. Die Insel hatte alles, wovon die Bevölkerung träumen konnte.
 
Trotzdem war die Bevölkerung traurig und unzufrieden. Der König war daran schuld. Er kümmerte sich weder um seine Bevölkerung, noch um seine Familie, die aus seiner netten Frau und einer hübschen Tochter bestand. Er liebte nur den Wein und das Schachspiel. Tage und Nächte verbrachte er am Schachbrett mit den Gläsern Wein. Er hatte mit den Problemen der Bevölkerung und seiner Herrschaft nichts am Hut. Die Königin hüllte sich auch in Schweigen, weil sie sich als schwache und machtlose Frau sah. Die Bevölkerung hatte niemand, der ihr zuhören mochte.
 
Wegen dieser Gleichgültigkeit des Königs herrschten die Diebe und Strolche über die Insel. Niemand, der ehrlich und arm war, konnte sich durchbringen. Die Menschen versuchten mit ihrem Schicksal in dieser hilflosen und hoffnungslosen Situation nicht zu hadern, aber ohne Erfolg.
 
Viele Jahre gingen dahin, und endlich sahen die Leute ein Fünkchen Hoffnung, als die Prinzessin das Heiratsalter erreichte. Die Königin kündigte einen allgemeinen Wettbewerb für alle jungen Männer an. Der Gewinner dieses Wettbewerbes würde der Ehemann der Prinzessin werden. Damit bot sie einen Pokal der Möglichkeiten an, der eine Lösung  für die Probleme der Herrschaft sein konnte.
 
Und was war denn der Wettbewerb? Die Bevölkerung konnte nicht mehr darauf warten, um es zu wissen. Endlich sagte die Königin: „Wer das Alkoholproblem des Königs beseitigen kann, bekommt meine Tochter und damit diese Herrschaft.” Schweigen herrschte über dem Publikum. Alle wunderten sich: „Wer sich das zutrauen würde?? Der König kann ohne Wasser leben, aber ohne Alkohol? Das wäre unvorstellbar!” Niemand kam nach vorn.
 
Die Königin schrie: „Ist niemand mutig genug, der diese Aufforderung akzeptiert? Hat unser Dorf nur Memmen? Ich lasse Ihnen Zeit bis zu diesem Wochenende. Wenn Sie sich dazu fähig fühlen, kommen Sie bitte vor.”
 
Hans war ein attraktiver Mann, der Sohn eines Kleinbauern. Er war gesegnet nicht nur mit einem guten Aussehen, sondern auch mit Weisheit. Er konnte einen ruhigen Kopf bewahren, wenn alle anderen angespannt waren. Er war immer auf dem Sprung, gegen schwierige Probleme zu kämpfen. Er entschied sich, dem König einen Denkzettel zu verpassen. Er kam sofort vor und vor dem ganzen Publikum sagte er zu, an diesem Wettbewerb teilzunehmen und die Prinzessin zu heiraten.
 
Er kaufte eine Fledermaus, eine Klingel und eine Kerze. Das Schloss der Königsfamilie hatte eine Diele, wo der König nachts Alkohol trank. Meistens war er allein da. Hans hatte vor, diese Möglichkeit zu nutzen. Er band die Klingel um den Hals der Fledermaus und steckte die Kerze auf den Kopf. Als der König völlig besoffen war, liess er die Fledermaus in die Diele. Sie flog dahin und dorthin, die Klingel klingelte, die Kerze flackerte. Sie verursachte einen Schatten, der einer Hexe ähnelte. Dann schrie Hans auf eine gruselige Art: „Hey du König!!! Was machst du? Du säufst wie ein Loch! Was ist aus dir geworden? Ich bin total unzufrieden mit deinem Benehmen und ich will dich totschlagen!” Zuerst nahm er es nicht ernst, aber als Hans es während der Nacht wiederholte, lief es dem König kalt über den Rücken. Er konnte es nicht mehr ertragen und schrie vor Angst: „Bitte verzeih mir, du strenge Hexe. Ich verspreche es dir! Nie wieder werde ich besoffen sein und nie wieder werde ich Alkohol trinken. Bitte töt’ mich nicht ...Bitte töt’ mich nicht ...”
 
Die Stimme sagte: „Nun, da es du mir versprochen hast, lasse ich dich jetzt in Ruhe. Aber sobald du an Alkohol denkst, komme ich zurück und nehme deinen Kopf mit. Vergiss es nie ... Wenn du eine Fledermaus siehst, denk daran, dass ich dich beobachte. Du wirst nie ausser meiner Reichweite sein.”
 
Plötzlich war alles erreicht, und der König war wieder auf den richtigen Weg gekommen. Hans heiratete die Prinzessin und herrschte über die Insel. Der König machte eine Pilgerreise mit seiner Frau und suchte immer nach der Fledermaus. Die Bevölkerung war glücklich und froh. Und wenn sie alle nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!
 
Shiwangi Kale, Bankangestellte, Deutsch-Studentin, Bangalore/Indien
*
Eine hübsche Geschichte. Im Unterricht haben wir vor allem die Deutsch-Probleme diskutiert, nicht das Alkoholproblem in Indien. Wenn doch die Lösung dieses Problems so einfach wäre!
 
Frau Kale hat die Form eines Märchens gewählt. Märchen schliessen auch Wunschträume ein. Und das ist legitim!
 
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