Textatelier
BLOG vom: 25.12.2011

Festtagsstory: Georg, seit Weihnachtsabend verschollen

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Kann man über etwas schreiben, dass man weder wirklich oder nur in der eigenen Vorstellung erlebt hat? Sehr oft entwickeln sich Geschichten hinter verschlossenen Türen. Auch diese. Ich kannte Georg und seine Familie seit Jahren. Im häuslichen Rahmen als Gast empfangen, bot sich mir das Vorbild einer glücklichen Familie. Als mich seine Frau, ich nenne sie hier Ida, zwischen Weihnachten und Neujahr telefonisch anrief und mich besorgt fragte, ob ich wisse, wo Georg sei. Er sei seit Weihnachtsabend wortlos und spurlos verschwunden.
*
Georg hatte sich vorgenommen, seiner Familie zu verschweigen, dass er seine Stelle als Bankangestellter eine Woche vor Weihnachten als Folge der Wirtschaftskrise verloren hatte. Er war ein Mensch, der es seit je verstand, seine Gemütsruhe zu bewahren, sei es im Geschäft oder Zuhause. Aber in seiner Erbmasse war ein Gen, das an diesem Weihnachtsabend, eigentlich grundlos, virulent ausbrach.
 
Der Braten schmorte im Ofen, das Besteck und die Teller waren zur Feier des Tages im Esszimmer bereit. Sein 16-jähriger Sohn lag auf dem Teppich ausgestreckt vor dem Fernseher. Seine 2 Töchter waren mit der Toilette beschäftigt. Die Geschenke lagen unterm Weihnachtsbaum ausgebreitet. Entgegen seiner Art wandte er sich bissig an seinen Sohn: „Hast du nichts Besseres zu tun als hier herumzulungern?" „Was nörgelst du“, gab er seinem Vater zurück. Georg schwieg und schenkte sich einen Whisky ein. Ein 2. und 3. Whisky folgten sogleich. Sein Gen entflammte. Mit einem Ruck stand er auf und sagte zu seiner Frau gewandt: „Ich habe die Nase voll!“ Sie hatte nicht einmal zugehört, da sie mit Pfannen hantierte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schlüpfte Georg in seinen Mantel, umwickelte seinen Hals mit dem Wollschal, ein Geschenk von der letzten Weihnacht, versorgte sein Portemonnaie in die hintere Hosentasche und verliess die Wohnung geräuschlos. Kein Mensch war mehr auf der Strasse.
 
Als er sich der Brücke näherte, sah er unterhalb des Fusswegs ein Feuer, dem er sich mit wankenden Schritten näherte. Eine Gruppe von 5 oder 6 struppigen Gesellen hatten sich ums Feuer geschart. Eine Flasche Branntwein machte die Runde. „Willst du mithalten?“ sprach ihn einer mit ächzender Stimme an. Dankend nahm er die Einladung an. „Nimm einen tüchtigen Schluck!“ forderte ihn jener, der die Flasche hielt, auf und reichte sie ihm. Das Gesöff brannte in seiner Kehle, und er musste gewaltig husten. „Was bringt dich zu uns?“ wollte einer wissen. Georg antwortete achselzuckend: „Ich weiss nicht.“ – „Du hast uns zu viel weggesoffen“, wandte sich ein anderer Säufer an Georg und forderte Geld, um sich mit Alkohol in einer nahen Kneipe einzudecken. So nahm das Trinkgelage seinen Fortgang. Mit einem Sturm im Kopf streckte sich Georg auf dem Sacklager aus.
 
Unsanft wurde er anderntags von einem Polizisten mit einem Fusstritt geweckt. „Hier hast du um diese Zeit nichts zu suchen, erst noch am Weihnachtstag und stockbesoffen“, herrschte er ihn an. Ein Streifenwagen fuhr vor. „Im Kittchen hat es keinen Platz mehr“, wandte der Chauffeur ein. „Am besten bringen wir ihn in ein Obdachlosenasyl.“ Und so geschah es.
 
Die Gauner hatten seinen gut gefütterten Mantel und Schal gestohlen, auch seine Armbanduhr und sein Portemonnaie. Seine Schuhe fehlten ebenfalls, mitsamt den Wollsocken. Jemand warf Kleidungsstücke aus der Wohlfahrt auf seine Matratze: „Da! Du hast Glück, dass es Weihnachten ist. Zieh dich an!“ Georgs Vergangenheit schien wie ausgelöscht. Er konnte sich an nichts mehr erinnern. Und das störte ihn nicht einmal.
 
In der Grossstadt verschwinden viele Menschen spurlos. Georg war einer von ihnen. Er wurde zum Bettler, der vor einem der Bahnhöfe Almosen sammelte. Sein struppiger Bart machte ihn unkenntlich. Ein verwahrloster Hund gesellte sich zu ihm. Unter seinen Fingernägeln sammelte sich Schmutz. Bei Nachteinfall schlurfte er zu seiner Unterkunft bei einem Ladeneingang. Selbst dort wurde er als Vagant bald vertrieben.
*
Hier sollte die Geschichte eigentlich enden. Auf Drängen seiner Frau machte ich mich auf die Suche des verschollenen Georgs. „Wir haben einen verlumpten Kerl unter einer Brücke aufgelesen, unter der Eisenbahnbrücke“, erfuhr ich endlich von der Polizei und vermeinte damit, den Ausgangspunkt von Georgs Verschwindens gefunden zu haben. Doch die Clochards sind inzwischen von dort vertrieben worden. Das Asyl war, wie alle Jahre, kurz nach den Feiertagen geschlossen worden, desgleichen die Suppenküchen der Samariter.
 
Als ordentlicher Bankangestellter hatte Georg zugunsten seiner Familie eine Lebensversicherung abgeschlossen. Diese war vorderhand gesperrt. „Es gibt zu viel Versicherungsbetrug“, wurde Ida abgeschaufelt. Ein beglaubigtes Protokoll müsse im Vorfeld erstellt werden – und das brauche Zeit.
 
Was war mit Georgs Rolex-Uhr geschehen? Zusammen mit anderen Familienfreunden erweiterten wir die Suche auf Pfandleiher. Ida hatte eine Aufnahme der Uhr mit dem Zertifikat in Georgs Nachttischschublade gefunden. Immerhin war damit ein zweiter Ausgangspunkt geortet. Zwar wurde der Pfandverleiher gefunden, doch die Spur verlor sich. Der Name des Pfänders und seine Adresse waren gefälscht und bloss mit Angaben eines ebenfalls gefälschten Führerscheins belegt. Das war kaum mehr als ein erstes Indiz fürs Versicherungsprotokoll wert.
 
Keine Leichenfunde liessen sich mit Georg identifizieren. Ein toter Punkt unserer Bemühungen war erreicht. Georgs Sohn Tim hatte sich zu unserer Fahndungsaktion gesellt. Der Frühling war schon ins Land gezogen, und Vaganten belegten über die Nacht Parkbänke. Hätte nicht ein Hund, mit einem Seil an eine Bank gebunden, Tim zornig fauchend angebellt, wäre Georg verschollen geblieben. „Das ist er!“ schrie Tim, und ich eilte herbei. „Wie weisst du das?“ fragte ich ihn. „Schau dir seine Nase an … nur mein Vater hat eine solche Nase und solche lappige Ohren.“ Inzwischen hatte sich der Mann halbwegs erhoben und starrte uns mit irren Augen an. Übers Handy verständigten wir den Familienanwalt über die vermeintliche Entdeckung. „Bleibt bei ihm, fotografiert ihn und lässt ihn nicht aus den Augen! Ich werde das Nötige veranlassen“, versprach er.
 
Kurz später erschien der Anwalt mit einem Arzt. „Der Hund bleibt zurück“, wurde beschlossen. Davon wollte Georg nichts wissen. Erst als der Hund zu seiner Seite war, liess er sich ohne Widerstand ins Auto bugsieren. „Vorderhand werden wir die Polizei nicht benachrichtigen“, entschied der Anwalt nach etlichem Zögern. In einer Privatklinik wurde das Gesicht des Mannes vom Bart befreit. Und es stimmte: Unterhalb des Kinns hatte der Mann eine Narbe. Andere körperliche Merkmale stimmten mit Georgs Identität überein. Die private Krankenversicherung übernahm den Fall. Ein Mensch in solchen Umständen bleibt für sie immer bloss ein Fall …
 
Hier endet die Geschichte mit der langwierigen Rehabilitierung von Georg. Ganz langsam nur flackerten Erinnerungen in Georg auf. Tim widmete seinem Vater viel Zeit und begleitete ihn auf Spaziergängen in der aufblühenden Landschaft. Georgs Hund spazierte mit.
 
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