Textatelier
BLOG vom: 29.05.2011

Gedanken rund um die Schönheit von Natur- und Stauseen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Die Anziehungskraft (Schwerkraft, Gravitation) hält uns auf der Erde fest. Ohne sie würden wir uns mit unserem Hab und Gut im Weltall verlieren. Sie ist nicht nur eine der 4 physikalischen Grundkräfte, sondern wir werden auf der Gefühlsebene von vielem angezogen: von liebenswerten Menschen, Naturschönheiten, einem Kunstwerk, einem angenehmen Geruch usw. Eine besonders starke Anziehungskraft entwickelt das Wasser, vielleicht weil unsere evolutionäre Geschichte eine grundlegende aquatische Phase durchlief. Und so sehnen wir uns als Wasserwesen immer wieder nach Bädern oder einem Aufenthalt im oder am Wasser. Und wir haben das Wasser als Lebens- und Heilmittel entdeckt.
 
Natürlich gibt es auch überlebensstrategische Gründe, dass wir uns mit Vorliebe in Uferregionen von Bächen, Flüssen, Strömen, Seen und Meeren niederlassen, doch auch ohne diese sind Bau- und Zeltplätze möglichst nahe am Wasser besonders begehrt, so lange keine Überflutungsgefahr besteht. Seelandschaften empfinden wir als besonders attraktiv, und wir schätzen den ausgleichenden klimatischen Effekt von Wasser, das wegen seiner hohen Wärmespeicherungskapazität Temperaturschwankungen nur verzögert mitmacht. Würde man zum Beispiel der Innerschweiz den Vierwaldstättersee oder dem Seetal den Hallwilersee wegnehmen, wäre ihr landschaftlicher Reiz bedeutend geringer. Und der zwar etwas eingeschränkte Blick auf die angestaute Aare zwischen dem Kraftwerk Rupperswil-Auenstein und Aarau ist einer der Pluspunkte der Lage unserer Liegenschaft in Biberstein.
 
Bergseen
Eigenwillige Bijous sind die Bergseen, die eine optische Ruhe ins zerklüftete, ja urwüchsige Gelände bringen. In ihnen spiegeln sich Berge, Gletscher, Alphütten und der übrige Landschaftszubehör, eine auf dem Kopf stehende Verdoppelung. Die Seen sind entweder Naturseen, Resultate glazialer Ausschürfungen (Bewegung schwerer Eismassen) oder aber Kunstseen, die mit Hilfe von gewaltigen Staumauern angelegt worden sind und manchmal ganze Täler, Weiler und Dörfer unter sich begraben haben. Die Naturseen, meistens aufgefüllte Geländemulden, sind im Gebirge meistens kleiner und, wird die Wasseroberfläche verglichen, eindeutig zweitrangig.
 
Stauseen
Die Frage, die sich nicht nur in diesem exzessiv energiehungrigen Zeitalter, sondern überhaupt stellt: Gehören auch Stauseen zu den anziehungskräftigen Gewässern? Strahlen nicht auch sie die viel besungene Seenschönheit aus? Als ich am 19.05.2011 bei der Kapelle oberhalb des Zervreila-Stausees auf rund 2000 Höhenmetern stand und sinnierend ins halbleere Wasserbecken mit den weissgespülten Ufern blickte, sagte Clau Battaglia aus Sagogn, eine Zufallsbekanntschaft, als ober er meine Gedanken lesen könnte, Stauseen seien nicht immer nur landschaftstötend und hässlich, sondern hätten schliesslich auch ihren Zauber. Ja, vielleicht ist eine Landschaft mit Stausee verlockender als eine ohne, wobei Stauseen natürlich ihren ökologischen Tribut eingefordert haben.
 
Das bezeichnende Beispiel: Das Bauprojekt der Kraftwerke Oberhasli (KWO), den Grimsel-Stausee als wichtigen Energiespeicher durch eine Erhöhung der Staumauer um 23 Meter wesentlich zu vergrössern, stiess bei den Natur- und Umweltorganisationen, die auf der anderen Seite auch im Kampf gegen die in Ungnade gefallenen Kernkraftwerke kräftig mitmischeln, auf Widerstand. 9 Organisationen, darunter der WWF Schweiz, Pro Natura und Greenpeace, haben gegen das Mitte Oktober 2005 aufgelegte Projekt Einsprache erhoben. Denn die Vergrösserung der Grimselsee-Wasserfläche würde zu einer Überflutung des Gletschervorfelds, von Teilen eines Arvenwalds und einer Moorlandschaft führen; insgesamt müssten 87 Hektaren geschützter Landschaft geopfert werden. Dabei bringe die Erhöhung der Staumauer, so sagen sie, einen vergleichsweise bescheidenen Leistungszuwachs. Und mit dem Ausbau der Turbinenanlagen Handeck sowie Innertkirchen und dem Bau des unterirdischen Pumpspeicherwerks Grimsel 3 zwischen Oberaarsee und Räterichbodensee könne die KWO deutlich mehr Strom produzieren.
 
Doch überlassen wir den energiepolitischen Teil den Behörden, der Wirschaft und den anständigen Protestwanderern, wie sie sich am 21.05.2011 im aargauischen Kleindöttingen zusammengefunden haben, die Open-Air-Stimmung im unteren Aaretal geniessend – nach Polizeiangaben sollen es ihrer mehr als 15 000 gewesen sein. In diesem Blog geht es vielmehr um die Schönheit der Stauseen, eine Frage, die sich bei all den energiepolitischen Neuorientierungen in den Vordergrund schiebt, obschon die Möglichkeiten zur Stromgewinnung aus Wasserkräften aller Art in der Schweiz weitgehend ausgeschöpft sind, abgesehen von Effizienzsteigerungen. Mit den scheusslichen, unzuverlässigen und wenig ergiebigen Windkraftwerken auf Jurahöhen habe ich bereits abgerechnet (Blog vom 08.04.2011: Windkraftwerke: Landschaftstötende, lärmige Alibiübungen).
 
Im Unterschied zu den Naturseen haben die Stauseen meistens eine schräge, gebogene und an verengten Stellen beidseitig im Gebirge verankerte Staumauer – insgesamt geht es also um eine Verbindung von Natur und Technik, wie zum Beispiel auch bei einem Brückenbau. Wenn der Stausee einen tiefen Pegelstand hat, tritt die Staumauer auch auf der Innenseite ins Blickfeld, sonst nur die talseitige Wand. Auf der Krone ist meistens eine Strasse angelegt, so dass Staumauern auch Übergänge von einer Talseite zur anderen sind. Damit hat es sich allerdings noch nicht: Hinzukommen Betriebsgebäude, Aussentreppen, talwärts Strassen zum Fuss der Staumauer usf. Die Hochdruckleitungen zu den tiefer unten liegenden Kraftwerkzentralen, die den schnell fliessenden Gebirgsbächen das meiste Wasser vorenthalten, verschwinden oft im Berg; dafür werden von dort Hochspannungsleitungen sichtbar. Die Pumpspeicherwerkanlagen im Grimsel sind im Inneren des Bergs.
 
Stauseen, in hoch gelegenen Alpentälern angesiedelt oder durch Flussaufstauungen herbeigeführt, haben eine wichtige Funktion im Rahmen der Energieversorgung, indem sie den unterschiedlichen Wasseranfall regulieren und als Puffer für die schwankende Elektrizitätsnachfrage dienen – im Tages- und Jahresverlauf. Sie sind immer von einer vielfältigen Infrastruktur begleitet, kommen also nie in reiner Form und ohne weitere Bezüge zu den Begleiterscheinungen unserer technischen Zivilisation daher. Aber hat man sich einmal an sie und ihr Inventar gewöhnt, können sie durchaus ihre eigenen Reize entfalten. Denn in die eigenwillig geformten, unregelmässigen Gebirgsszenen bringen Wasseroberflächen, die mit Licht und Schatten spielen, wie die Höhenkurven einer Landkarte einen Eindruck vom Verlauf einer Horizontalen. Dadurch werden die Geländeformen deutlicher hervorgehoben und ein beruhigender Effekt in die Landschaft eingebracht.
 
Bei allen Wanderungen in der Bergwelt habe ich die Bergseen und auch die Stauseen als belebende Landschaftselemente empfunden; den Verlust von versunkenen Dörfern etwa im Sihlsee, Wägitalersee, Lago di Vogorno im Verzascatal, Marmorera, Göscheneralpsee, Zervreilasee und im Lac d’Émosson hat man vergessen; sie sind abgebucht. Die meisten überfluteten Talschaften hat man auch als älterer Knabe nicht einmal gekannt. Eine Liste der Schweizer Stauseen kann unter http://www.swissdams.ch/Dams/damList/default_d.asp
eingesehen werden.
 
Ihre Bedeutung und das Ansehen der Wasserkraft wächst im Rahmen der zwar auffallend unqualifiziert geführten Diskussionen über die Kernkraftwerke, denen die Gegner lieber Atomkraftwerke sagen. Man vergisst aber oft, dass es auch in Bezug auf Bogen- und Gewichtsstaumauern und bei Dämmen keine absolute Sicherheit gibt. Staudammbrüche können verheerende Folgen haben, weil sie meistens dann erfolgen, wenn der See ohnehin voll ist. Die Schönheit hat nun einmal ihren Preis, vor allem die künstlich herbeigeführte.
 
Flusskraftwerke
Vom ästhetischen Standpunkt aus weniger überzeugend sind die zur Elektrizitätsgewinnung gestauten Flüsse, bei denen Staustufe auf Staustufe folgt. Sie haben ihre Ursprünglichkeit und Vitalität verloren, wirken banal, als ob sie in der Agonie verharren würden: zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben. Sie sind intensiv pflegebedürftig.
 
Dementsprechend habe ich mich bei einem Spaziergang umso mehr gefreut, den ich am 23.05.2011 vor dem Sonnenuntergang zwischen Rupperswil und Auenstein an der Aare unternahm. Dort, zwischen der länglichen Aareinsel und dem rechten Ufer unterhalb des bereits geschleiften Fussballplatzes Rupperswil, der bis anhin mit den alten Betriebsgebäuden, der Bandenwerbung und dem übrigen fussballerischen Zubehör die bewaldete Landschaft verunstaltet hatte, wird eine grossräumige Aufweitung des Aare-Altwassers durch eine Zurückversetzung des Damms, so etwas wie ein 3. Aarelauf, herbeigeführt. Imposante Erd- und Kiesbewegungen sind die Voraussetzung für die Wiederherstellung einer Auenlandschaft als dynamische Flussaue. Feucht- und Riedwiesen sowie Erlenbruchwälder werden die nicht immer sehr naturnah beförsterte, verfichtete Kunstwälder ersetzen – Übergangsbereiche zwischen Wasser und Land mit dem natürlichen Wechselspiel von Überschwemmungen, Trockenheit, Erosion und Sedimentation.
 
Ins neue, unregelmässig geführte Flussbett ist bereits Aarewasser eingedrungen. Ich habe es fast wie ein Kneipp’sches Wassertreten an der nördlichen Spitze der Insel, deren Natursteindamm der Umgestaltung bereits weitgehend zum Opfer gefallen ist, an 2 Stellen durchwatet und die Hitze in den Beinen bachab geschickt – herrliche Gefühle in diesem Fliesswasserparadies, die nicht nur über die Beine, sondern auch über Augen und Ohren vermittelt wurden.
 
Das lebendige Wasser in all seiner vielfältigen Schönheit wird hier wieder Oberwasser erhalten.
 
Buchhinweis
Rausser, Fernand, und Hess, Walter: „ Wasser Impressionen“, Verlag Wegwarte, Bolligen 2009.
 
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