Textatelier
BLOG vom: 02.11.2010

Zwischen Nuss & Muschel: Ist Rousseau glaubwürdig?

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Ich bekenne, dass ich eine harte Nuss bin und meine persönlichen Gefühle selten zeige oder durchblicken lasse. Und schimmern sie dennoch durch, sind es Spurenelemente. Ich verarbeite sie anders als etwa Jean-Jacques Rousseau. Das mag seinen Grund in meiner Kindheit haben, als ich noch (zu) offenherzig und vertrauensselig war – naiv würde ich heute sagen.
 
Im Kern bin ich sentimental und rührselig geblieben. Jubelgefühle halte ich jedoch im Zaum. Ich verhänge das Schweigen über mich selbst, genau wie jetzt, und gebe mich nur schriftlich preis, und selbst dann oft nur kaschiert, in Erzählungen, Essays usf. Das hat seine Vorteile: Ich bin ein guter Zuhörer, Beobachter und Leser. Davon zehre ich in meinen Texten.
 
„Was würden Sie an meiner Stelle tun?“ werde ich öfters gefragt. Rat und Urteil sind billig, und ich weiche der Antwort aus. Meine Ausnahme bezieht sich diesmal fragmentarisch auf:
 
Jean-Jacques Rousseau (1712‒1778)
Dreimal in meinem Leben habe ich versucht, mich in Jean-Jacques Rousseaus „Les Confessions“ hineinzuleben. Vor wenigen Wochen zum 3. Mal. Seine Bekenntnisse sind voller Widersprüche. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt. In der Waadtländerin Madame de Waren fand er seine 2. Mutter. Fortzu nannte er sie „maman“, die auch seine Geliebte wurde. Seine vornehmlich auf sich bezogene Seelenergüsse finde ich unerträglich. Sie werden in der „Partie 1, livre VI“ ausgebreitet.
 
Sein schwankender Gesundheitszustand grenzte an Hypochondrie. Er verliess ‚maman’ für einen Kuraufenthalt in Montpellier F. Rousseau unterbrach seine Reise in Moirans. Dort begegnete er Madame de Larnage. In Valence wurde sie seine Geliebte, und er war kuriert. „Les amours de voyage“, beichtete er, „ne sont pas faits pour durer“. An anderer Stelle gestand er: „J’avais oublié, durant ma route, que j’étais malade.“ In Montpellier trennte sich das Paar. Sei noch hinzugefügt, dass Madame de Larnage von ihrem Gemahl begleitet war.
 
Unterm Einfluss seiner „maman“ wurde er Katholik. Später in seinem Leben wurde er wieder Protestant. Solche religiöse Wechselbäder decken Jean-Jacques sprunghaftes Temperament auf. Seine autodidaktisch betriebenen Studien verfolgte er gleichermassen wechselhaft.
 
1741 begegnete er Thérèse Le Vasseur, eine Dienstmagd, mit der er 5 uneheliche Kinder zeugte. Seine Kinder, so wird gesagt, versorgte er in einem Heim für Findelkinder. Der als Erzieher gerühmte Jean-Jacques Rousseau – verblasst im Vergleich mit Heinrich Pestalozzi (17461827).
 
„Wie hätten Sie an seiner Stelle gehandelt?“ Diese Frage warf mir ein aufgebrachter Bewunderer von Rousseau zu.
 
Niemand ist ohne Fehl. Dabei lasse ich es bewenden und lege den 1. Band aus der Hand. Eines Tages werde in den 2. Band anfassen, der sich mit einem seiner Hauptwerke („Emile ou de l’Education“) befasst. In diesem Werk rät er, dass Kinder bis zum 12. Altersjahr von Büchern abgehalten werden sollten. Mädchen dachte er einzig die Rolle als Eheweib und Mutter zu.
*
Wirklich, ich bin eine Nuss, die schwer zu knacken ist. Rousseau scheint mir eine offene Muschel zu sein, deren Inhalt dotterhaft weich ist – und für mein Empfinden geschwätzig seicht. Aber punkto Dogmen ist er steinhart. Hier endet mein Essay-Fragment.
 
Quellenverweise
„Les Confessions de J.J. Rousseau“, Librairie de Firmin Didot Frères, Paris 1866.
Emile ou de L’Education“ par J.J. Rousseau, Librairie de Firmin Didot Frères, Paris 1867.
 
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