Textatelier
BLOG vom: 15.12.2009

Rund um Vögelinsegg: Krieg, Frieden, Jasser, Schizophrenes

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG (Textatelier.com)
 
Am 07.12.2009 habe ich die alten Appenzeller mit den Taliban verglichen, weil sie sich gegen ausbeuterische fremde Mächte und Machtstrukturen (im Klartext: das habsburgische/österreichische Expansionsstreben einerseits und die diebischen Kirchenfürsten aus dem Kloster St. Gallen anderseits) zur Wehr setzten. „S’hett scho öppis“ (Es ist etwas dran), bestätigte die Wirtin des „Spycher-Stöblis“, Béatrice Tobler in 9042 Speicher, auf meinen Taliban-Vergleich angesprochen. Ich ass dort am 10.12.2009 eine Bouillon, klar und würzig wie die Appenzeller Luft, die berühmten, knusprigen Pommes-Frites und ein paniertes Schweineschnitzel, mit Zitronensaft beträufelt, zu Mittag. Ich hatte gerade Lust darauf und gestand mir das Recht, das Menu nicht nach den letzten ernährungsphysiologischen Grundsätzen auszuwählen, ausnahmsweise bzw. schon wieder zu.
 
Die Rechnung des Abts ging nicht auf
Auf der Fahrt von der Stadt St. Gallen (Wegweiser: Trogen, dem Trassee der Appenzeller Bahnen folgend) kam ich am Kloster, der Churzegg sowie dem Schwarzen Bären vorbei und hielt auf der Vögelinsegg (früher: Vögelinseck) an, auf 956 Höhenmetern, wo auch das Restaurant „Höhenblick“ die beschränkte Sicht übers Land wahrnahm. Der Blick über den Thurgau bis zum Bodensee und die übrige buckelige Hügellandschaft war von einem Schleier in verschiedenen Grautönen erschwert, und die Vorarlberger Bergketten musste man sich in seiner Fantasie ausmalen. Er reichte gerade noch bis zum schönen Dorf Speicher mit der dominanten Kirche (von 1808/10) mit ihrem Haubenturm, die aussen und innen nie wesentlich verändert wurde, und zu Bauernhäusern, wie sie überall in der Appenzeller Landschaft herumstehen und auch gut dazu passen, oft mit Tätschdach in Giebelstellung und quer laufendem, angebautem Stall.
 
Offenbar zugunsten des Strassenausbaus ist auf dem Vögelinsegg-Höhepunkt die Kuppe einseitig abgetragen worden, so dass in der Kurve ein mit VÖGELINSEGG gross beschrifteter Fels hervortritt, an dem sich einige Büsche festgekrallt haben und an dessen Fuss noch ein grauer Schneehaufen lag. Eine neue Portion kündigte sich gerade an; denn noch gibt es sie, die Appenzeller Winter.
 
Das Schlimmste aber war ein sich verstärkender Nieselregen wenige Celsiusgrade über dem Gefrierpunkt, der zwar nach nichts aussieht, einen aber binnen kürzester Zeit durchnässt. Ich schützte die Kamera unter meiner Regenjacke und stieg vom Parkplatz bzw. der Bahnhaltestelle die Steintreppe zum Schlachtdenkmal hinauf, das seit 1903 auf der Kuppe steht. Es zeigt einen grimmig und verächtlich genau in Richtung St. Gallen-Stadt blickenden, athletischen Hirten mit hochgekrempelten Ärmeln, Kniestrümpfen und schwerem Schuhwerk mit Profilsohlen, von den Appenzellerkriegen gestählt, neben einem Büschel Eichenlaub, diesem politischen und militärischen Symbol. Im Kniebereich treten kräftige Muskeln hervor. Er ist mit einem massiven Morgenstern, dem mit Zacken versehenen Streitkolben, bewaffnet. Ein Schlag genügt, und der Rest ist Kleinholz. Ein Mordskerl, der keinen Widerspruch duldet. Und der sich selbst von Nieselregen nicht beeindrucken lässt.
 
Das Denkmal neben mächtigen Buchen und verschiedenen Nadelbäumen wie Weisstannen steht für den Sieg der Appenzeller, die sich mit den Schwyzern verbündet hatten, gegen das Heer des St. Galler Abts Kuno von Stoffeln, der von den Habsburgern unterstützt wurde, am 15.05.1403. Die Talente des Abts lagen vor allem bei Steuereintreibungen, die für die Untertanen kaum erträglich waren, und offenbar weniger bei der Kriegskunst. Er plante, gegen die sturen, strategisch nicht geschulten Appenzeller Bauern ein Exempel zu statuieren, um dann seine Kassen weiterhin füllen zu können.
 
Das etwa 4000 Mann umfassende äbtische Heer kam in der damals üblichen Art in 3 Staffeln wie auf einem Sonntagsspaziergang daher. Die Spitze bildeten die Zimmerleute, die allfällige Hindernisse aus dem Weg zu räumen hatten, dann die Schützen und der Hauptharst. Die Zimmerleute waren im „Loch“ zwischen dem Wenigerweiher und der östlichen Kantonsgrenze St. Gallen/Appenzell-Ausserrhoden (etwa 1 km nordwestlich des Passes Vögelinsegg) gerade mit dem Aufbrechen einer Letzimauer, die als Hindernis errichtet worden war, beschäftigt, als etwa 400 Appenzeller und Schwyzer zusammen mit einem vorbereiteten Steinhagel zuerst frontal und dann von der Flanke her angriffen. Die von St. Gallen aufgestiegenen Truppen sassen in der Falle, kamen nicht einmal zum Schuss, und 300 von ihnen wurden regelrecht niedergemetzelt, weil ihnen die Flucht nicht gelang; aufseiten der Appenzeller gab es etwa 8 Tote. Wie bereits im Blog vom 07.12.2009 („Als die Appenzeller so gefürchtet waren wie die Taliban“) beschrieben, haben die Appenzeller 2 Jahre später (1405) bei der Schlacht am Stoss einen weiteren Sieg errungen. Ihr Selbstvertrauen und ihre Freude am Kriegshandwerk kannten keine Grenzen mehr.
 
Ich befand mich auf der Vögelinsegg, als der kriegerische Friedensnobelpreisträger Barack Obama in Oslo gerade Krieg und Gewalt als Mittel zur Friedensförderung hochleben liess. Und genau an dieser Stelle drängt sich wieder ein Vergleich zu den Taliban auf: Sie haben bis jetzt sämtliche feindlichen Mächte in Schach gehalten und besiegt, sind höchst motiviert und können in ihrem schwierigen, ihnen vertrauten Gelände durch Ausländer nicht besiegt werden. Den USA-Nato-Attacken widerstehen sie seit 8 Jahren problemlos. Genau wie im Rahmen der Appenzellerkriege (1401‒1429) gegen die Fürstabtei St. Gallen produziert das auf der Siegerseite mehr Lust auf Widerstand und in diesem Rahmen auch mehr von dem, was wir Terrorismus zu nennen pflegen. Der auf die Rhetorik beschränkte Friedenspolitiker Obama, bei dem wunderschöne Sprüche, von seinen talentierten Redenschreibern wie Jon Favreau (26) zusammengestellt, und Taten so markant auseinanderklaffen, schickt mindestens 30 000 weitere Soldaten nach Afghanistan, und während viele Amerikaner hungern, will er zusätzlich 30 Mia. USD für seinen Krieg aufwenden, den Taliban noch grössere Erfolge ermöglichend, den Terrorismus weiterhin anheizend. Das ist seine eigene Version von einem just war (einem gerechten Krieg).
 
Diese Terminologie wirkt etwas abgedroschen. Und bei Bestattungsfeiern werden die Herausredenschreiber schon wieder die richtigen Worte finden.
 
Die Afghanistan- und die Appenzellerkriege haben viel Gemeinsames, nicht was die Dimensionen, sondern was den Kriegsmechanismus anbelangt. Doch auch die Appenzeller, die im Winter 1408 bei der Belagerung der Stadt Bregenz überraschende Verluste erlitten, erfuhren, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen; ihr Ruf der Unbesiegbarkeit war zerstört. In Bezug auf den Afghanistankrieg ist die Frage, ob sich die höchstgerüsteten Amerikaner, unterstützt durch gefügige, beliebig manipulierbare Nato-Hilfstruppen, oder die Taliban als unbesiegbar erweisen werden. Bis jetzt haben die Amerikaner erfreulicherweise die meisten ihrer Aggressionskriege verloren (Vietnam, Kuba, Irak).
 
Im Speicher
Im Appenzellerland sind die Dimensionen schon etwas bescheidener, und heute herrscht dort Friede, eine Wohltat. Man fühlt sich geborgen, daheim, und ich werde mit meinem Toggenburger Dialekt von den Appenzellern immer sofort als einer der Ihren aufgenommen. Es gibt überall im Appenzellischen Gasthäuser, in denen man Kontakte knüpfen kann und wo man gut, währschaft-unkompliziert bedient wird.
 
Im Speicher (man sagt „im Speicher“ und nicht etwa „in Speicher“, der Name rührt von einem grossen Speicher her) erwärmte ich mich im frisch gelüfteten Restaurant „Rebstock“ an der Hauptstrasse 10 an einem Kaffee. Der heimelige Raum, mit Holz ausgekleidet, ist durch eine Scheibe mit dauerhaften Eisblumen, die ins Glas geritzt sind, zum angrenzenden Speisesäli abgetrennt, und trompetende, pausbäckige Engel flogen zwischen stilisierten Schneekristallen umher.
 
Ins Buffet ist gewissermassen eine Aufforderung zu einem gemütlichen Jass geschnitzt:
„STÖCK STICH WJS
4 NELL 4 6er GILT“
Die Spielregeln sind also klar, Auseinandersetzungen erübrigen sich. Der Nieselregen netzte die kleinen Fester: „Grüüüsig“ (grausig), sagte die Wirtin, Luise Reich.
 
Trotz all des meteorologischen Grauens raffte ich mich zu einer Besichtigung des schönen ehemaligen Weberei- und Stickereifabrikantendorfs auf, deckte mich beim Dorfmetzger Werner Jann mit Siedwürsten und Stumpen (längere und grössere Cervelats) ein und erkundigte mich im Gemeindehaus (1807/08) mit dem prächtigen Treppengeländer nach Informationsmaterial über den Speicher. Eine charmante, junge Verwaltungsangestellte, Janine Junker, offerierte mir sofort, mir die Tanner-Chronik (die 1850 von Bartholome Tanner geschriebene „Speicherer Chronik“) auf CD zuzusenden und auszuleihen, sobald die bereits ausgeliehene Disk zurückkomme, was denn auch geschehen ist.
 
Das Gemeindehaus, wie die Kirche von Konrad Langenegger entworfen, ist Bestandteil der Dorfplatz-Umgebung mit dem Bürger-Brunnen, der 1970 vom St. Galler Bildhauer Max Oertli (1921‒2007) geschaffen wurde. Dazu gehört ein gewaltiger, sich nach unten verjüngender, zerfurchter Bronze-Knollen, der vielleicht die Knorrigkeit der Appenzeller symbolisiert – ich weiss es nicht. Dort ist auch das Dorfschulhaus aus den Jahren 1843/44. Eine junge Dame aus Speicher, Tina Roth Eisenberg (35), hat es in New York (Brooklyn) mit ihren Design-Themen zur bloggerischen Berühmtheit gebracht. Motto: „A Swiss designer gone New York City“ (Internet: http://www.swiss-miss.com/). Schliesslich sind ja auch Speicher und das Appenzellerland überhaupt Design-Landschaften auf hohem Niveau.
 
In Trogen
Trogen ist nur etwa 2 km (Luftlinie) von Speicher entfernt, und der Dorfplatz, der zum Landsgemeindeplatz (die Landsgemeinde wurde 1997 abgeschafft; sie fand hier alle 2 Jahre statt) wurde und wo sich alle wichtigen Strassen treffen, ist noch imposanter als jener vom Speicher, wie es sich für den historischen Hauptort von Appenzell Ausserrhoden (ab 1597) gehört. Heute ist Herisau der Regierungssitz; in Trogen befinden sich noch die Gerichte, die Kantonspolizei, die Kantonsbibliothek und die Kantonsschule – Trogen ist also ungefähr eine halbe Hauptstadt eines Halbkantons, also eine Viertelshauptstadt.
 
Das Design des Dorfzentrums auf einem nach Nordosten abfallenden Geländerücken ist durch die Steinpaläste der Zellweger-Dynastie mit einem Anklang an die Baustile des 18. und 19. Jahrhunderts neben typischen appenzellischen, bemalten Holzhäusern sowie der frühklassizistischen Kirchenfassade inspiriert worden. Die hochragenden, voluminösen Steinbauten scheinen sich wenig um die topografischen Gegebenheiten zu kümmern.
 
Die wie nach vorne geschoben wirkende Kirche wird durch die gewaltigen Zellweger-Paläste fast in den Schatten gestellt. Die Zellweger-Familie wurde durch den weltweiten Leinwandhandel und dank der armen Appenzeller, die in ihren so genannten Weberhöckli in ärmlichen Verhältnissen schufteten, reich. Sie war aus einem St. Galler Ministerialengeschlecht hervorgegangen, betrieb Filialen in Lyon. Marseille, Genua und Barcelona und stellte 8 Landammänner sowie zahlreiche Landesbeamte. Die Zellweger-Familie beeinflusste somit die Politik wesentlich, hatte neben aller Reichtumsgier und dem ausgeprägten Repräsentationsbedürfnis allerdings auch eine philanthropische Ader. Sie vergrösserte ihre Macht (den Habsburgern ähnlich) selbst durch eine gezielte Heiratspolitik, bis sie in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts politisch ausgespielt hatte, obschon sie das Erziehungs- und Verkehrswesen verbessert hatte. Und ohne die Hinterlassenschaft ihrer Bauten wären nicht so viele ausserrhodische Institutionen in Trogen verblieben, ein Architektur-Festival, das sich vom einfachen, bescheidenen ländlichen Milieu so deutlich abhebt.
 
Ich war froh, dem sich in seiner Intensität ständig schwankenden Nieselregen entrinnen zu können und begab mich in die 1779/82 nach Plänen von Hans Ulrich Grubenmann erbaute Dorfkirche, die wegen ihrer Eigenwilligkeit wirklich sehenswert ist. Sie war Grubenmanns letztes Werk, der offensichtlich nochmals alles gab. Dieses Bauwerk schiebt ihre mit Säulen geschmückte Fassade unter dem Schweif- und Dreieckgiebel in den Dorfplatz vor, um sich neben diesen Prunkstücken etwas Geltung zu verschaffen.
 
Das helle Innere – das Licht tritt durch Fenster mit farbigen Bordüren ein – unter dem flach gedrückten, breiten Tonnengewölbe nach Grubenmann-Art ist reich geschmückt und bemalt, vor allem die Decke mit ihren Stukkaturen und 4 Gemälden, einzigartig in einer zwinglianischen Kirche. Sie wollte offenbar nicht alle Pracht den katholischen Gotteshäusern überlassen, eine Besonderheit. Im Chor steht eine neubarocke Orgel, und die Gestühle sind vor dem Chorbogen aufgestellt. Die oktogonale Kanzel aus Stuckmarmor ist am rechten Chorbogenpilaster befestigt, und auf mittlerer Höhe schwebt eine L-förmige Empore.
 
Man weiss, wenn man in diesem Kirchenraum herumschaut, gar nicht so richtig, was vorne, hinten und die seitlichen Abschlüsse sind, und woher und wohin man schaut, der Raum bietet immer neue Überraschungen.
 
Ich verliess den Raum durchs rundbogige Portal über die konvex geschwungene Freitreppe und stieg dann noch eine Seitengasse mit typischen Appenzeller Häusern mit Holzfassade, teilweise Schindeln, hinauf; weiter oben ist das Kinderdorf Pestalozzi („Kulturdorf im Appenzellerland“). Doch der sich gerade wieder verstärkende Nieselregen zwang mich bald zur Umkehr und zur Einkehr, nicht zur inneren, sondern in ein Café, wo der „Blick“ auflag.
 
Dank „Blick“ im Bild
Der normale Alltag hatte mich wieder. Ich erfuhr bei dieser Gelegenheit aus dem in der CH-Medienlandschaft schrittmachenden Boulevardblatt mit seinem ständig wechselnden Format (die Tabloid-Phase ist gerade vorbei), dass der urwüchsige Schauspieler Beat Schlatter (48), der uns Schweizer im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit BAG gebeten hatte, pandemiehalber doch bitte an der Schweinegrippe-Impfung teilzunehmen, sich selber nicht impfen liess, weil ihm der Hausarzt angeblich davon abriet. „Ich bin kein Impfverweigerer“, fügte der sympathische Beat noch bei. Was so wenig überzeugte wie seine Impfaufforderung. Er kam mir vor wie Obama, der von Frieden spricht und den Krieg ausbaut; seine dunkle Hautfarbe schützt ihn zum Glück vor dem Erröten. Schlatter seinerseits spricht vom Impfen und will seine eigene Gesundheit nicht durch den Impfcocktail ruinieren, also in Frieden lassen. Hat da jemand an Bewusstseinsspaltung gedacht?
 
Die Jassregeln im „Rebstock“ im Speicher sprechen schon eine eindeutigere Sprache. In einer Welt der Täuschungen und Verdrehungen werden klare Spielregeln bereits als revolutionär empfunden. Und revolutionär waren die Appenzeller schon immer: Sie werfen das Bewährte niemals über Bord.
 
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