Textatelier
BLOG vom: 24.11.2009

Gais AR: Wo selbst die Giebel quer in der Landschaft stehen

Autor: Walter Hess, Biberstein AG (Textatelier.com)
 
Das ist schon wohltuend: Oft vergehen mehrere Jahre, bis ich auf der Fahrt von St. Gallen nach Appenzell wieder einmal durch Gais AR komme, und während anderweitig ganze Dörfer zur Verkehrsförderungen aufgerissen und mit trostlosen Normbauten verschandelt werden, sieht es in Gais (919 m ü. M.) immer gleich aus. Die barocken Holzgiebelhäuser und klassizistischen Walmdachhäuser mit den dichten Reihen aus Sprossenfenstern, welche die halbe Fläche der Fassaden einnehmen, stehen da, wie schon immer seit dem Wiederaufbau nach dem Dorfbrand von 1780.
 
Für die Architektur war der örtliche Baumeister Konrad Langenegger zuständig. Er hatte offensichtlich einen ausgeprägten Sinn für Funktionalität, Proportionen und Rundungen, die den Anblick von unten bis an die Giebelspitze zum reinen Vergnügen machen. Ich nehme an, dass das den Appenzellern ebenfalls gefällt; aber selbst wenn sie dafür keine Begeisterung aufbringen sollten, ginge es ihrer Tendenz, am Alten festzuhalten, doch gegen den Strich, wenn so etwas abgebrochen werden sollte. Somit sind die Appenzeller Dörfer schon aus Mentalitätsgründen geschützt, und wenn dann noch der Denkmalschutz dazu kommt, ist dieser an sich überflüssig, kann aber nicht schaden.
 
Die wackeren Bauten
Die Gaiser Mansardgiebelhäuser, die man auch als Schweifgiebelbauten bezeichnen könnte, mit ihren serienweise angeordneten Einzelfenstern und Schwenkläden versetzen mich immer wieder in ein helles Entzücken wie auch die umgebende Hügellandschaft mit ihren Einzelhöfen, die einen anzuschauen scheinen. Solche Vorlagen haben die Bauernmaler schon immer dazu veranlasst, zu Farbstiften zu greifen oder den Pinsel tief in die Farbkübel, vor allem den grünen, einzutauchen. Der Alpstein setzt mit seiner krönenden Kulisse noch eins drauf ... auch er ist unverrückbar. Wanderwegweiser zeigen zum Gäbris-Seeli, zur Gäbris selber, zum Sommersberg und zum Hirschberg, der bereits zum Innerrhodischen gehört.
 
Innerhalb dieser Kulisse finden sich in Gais zahlreiche prächtige Häuser, unter denen das Haus von Hans Jakob Gruber, dem Landessäckelmeister, welches als das schönste gilt: ein frei stehender Holzbau mit geschweiftem Mansarddach und gleich doppelt geschweiftem Quergiebel, der wiederum eine Traufhohlkehle besitzt. Auf die dunkelgrünen Läden im Parterre sind Muschelmuster aufgemalt, wie sie bei Stuckaturen üblich sind. Die Vorderfassade ist getäfert und durch 4 toskanische Pilaster gegliedert. In der Mitte prunkt ein Rokokoportal, das durch einen etwas banal geratenen Schutzbau vor Wind und Wetter geschützt ist. In dem Gebäude ist heute die Tierarztpraxis Hermann Neff untergebracht. Der Wakkerpreis (1977) war verdient; das Gaiser Ortsbild hat nationale Bedeutung.
 
Ortsgeschichtliches
Man muss, ob man will oder nicht, immer etwas in die Geschichte eintauchen, um das Wesen eines Orts zu ergründen und zu verstehen. Gais ist älter noch als die Eidgenossenschaft; es wurde bereits 1272 (als „Geis“) erstmals erwähnt, das heisst es bestand damals bereits. 1518 brannte der Wille zur Selbstständigkeit mit den Gaisern im oberen Rotbachtal durch, und sie kauften sich vom Kloster St. Gallen los. Das Freiheitsstreben der Appenzeller hat schon Tradition; man denke bloss an die Appenzeller Freiheitskriege in den Jahren 1403 bis 1409, die sich gegen die Fürstabtei St. Gallen richteten.
 
Die Bauern, die da Gras- und Viehwirtschaft betrieben, hatten einen Teil dessen, was sie dem Boden abgerungen hatten, nach St. Gallen abzuliefern. Sie sahen es viel lieber, wenn, wie im 18. Jahrhundert, viele Leute zu einer Molkenkur heranreisten und etwas an Flüssigem liegen liessen. Zudem blühte auch hier wie in der Umgebung die Textilindustrie. In den meisten Häusern wurden Webkeller eingerichtet, wo die Feuchtigkeit für ein geschmeidiges Garn gerade richtig war und man für den St. Galler Markt produzierte. Die St. Galler waren den Appenzellern als Käufer lieber denn als Lehensherren. Man mag das verstehen.
 
Die Feuersbrunst von 1780 war ein Schlag für Gais. Da der Aufbau in besten Händen war, muss man für diesen Schicksalsschlag im Nachhinein schon fast dankbar sein. Nach dem Brand wurde auch die reformierte Kirche neu erbaut (1781‒82) – und zwar durch Vater Johann Jakob Haltiner (1728‒1800) und dessen Sohn Johann Ulrich Haltiner (1755‒1814); das Unternehmen Moosbrugger steuerte prächtige Stuckaturen bei, die in hellem Flaschengrün gehalten sind.
 
Wegen des breiten Schiffs und Chors hatte ich zuerst vermutet, die Architektur könnte in der Grubenmann-Dynastie fussen; doch gab es offensichtlich auch andere talentierte Baumeister. Die Kirche wurde 1969 restauriert und unter den Schutz der Schweizerischen Eidgenossenschaft gestellt, wie auf einer Tafel unter dem Vorzeichen aus Sandstein zu lesen ist. Die monumentale Orgel, ein eigenständiges Bauwerk mit 2 Seitentürmen, befindet sich dort, wo normalerweise der Altar ist.
 
In der Truube
Man kann bei Ortsbesichtigungen nicht einfach in jedes Haus hineinwatscheln, doch bei Restaurants ist dies möglich, ja geradezu erwünscht. Und so kehrten Eva und ich denn um die Mittagszeit des 16.11.2009 ins Restaurant „Truube“ in der Rotenwies 9 ein, etwas ausserhalb des Dorfzentrums am Weg zur Klinik Gais, offensichtlich ein ehemaliges Bauernhaus. Das Gasthaus wird von Silvia und Thomas Manser geführt. Ich hatte im Buch „Urchuchi“ von Martin Weiss darüber gelesen: „Die Traube, eine kleine, feine Wirtschaft am Fusse des Gäbris, ist ein Geheimtipp, den man am besten für sich behält.“ Damit ist gemeint, dass das Haus (www.truube.ch) nicht für eine Massenverköstigung geeignet sei, denn Silvia Manser kocht mit authentischen Zutaten von Grund auf und geht gern auf Sonderwünsche ihrer Gäste ein.
 
Man kommt zuerst einmal in ein gemütliches Gaststübli, in dem sich die Einheimischen gern bei einem Bier über die Politik unterhalten. Gleich dahinter ist das geräumige Speiserestaurant mit modernen Kunstwerken an den Wänden, die an Baumrinde erinnern. Die Räume sind niedrig, wie dies bei den Appenzeller Häusern üblich ist; doch kann die gross gewachsene, schlanke Frau Manser-Mösli darin immerhin aufrecht stehen, passt genau hinein. Gibt es so grosse Appenzellerinnen? Sie sei eine waschechte, sagte sie – und verwies mit Augenzwinkern darauf, dass der Fremdenverkehr im Appenzellischen eine lange Tradition habe ...
 
Sie bediente uns mit geduldiger Einfühlsamkeit, zauberte eine Rüeblisuppe mit Ingwer hervor, türmte krause Salatblätter in Grün und Violett sowie Sprossen über einer delikaten Sauce auf. Ich hatte mich für Rehschnitzel mit einer Zimtsauce mit Trauben auf der Grundlage eines dunklen Kalbsfonds entschieden. Dazu wurden in einem speziellen Porzellantopf mit Deckel butterige Spätzli, sodann Gemüse (Rotkraut und Rosenkohl), glasierte Kastanien und Apfel mit Preiselbeeren gereicht. Ich hatte gelesen, dass die hausgemachten Saucen Anlass zum Schwärmen geben würden. Ich kann das nun verstehen und unterschreiben. Jedes Detail, auch das Gemüse, stimmte, war liebevoll zubereitet; in der Küche waren auch 2 Lehrlinge am Werk. Zum Espresso wurde noch ein Turm mit hausgemachten Friandises aufgestellt – ein delikater Abschluss. Die 15 Gault-Millau-Punkte sind berechtigt.
 
Wir hatten zum Essen einen sauren, alkoholfreien Möhl-Apfelsaft getrunken und bezahlten für alles (inkl. Mineralwasser) 113 CHF (total für 2 Personen), was für unsere CH-Verhältnisse in Anbetracht der Qualität und der speziellen Wünsche, die wir hatten, sehr preiswert ist.
 
Im Bühler
Frisch gestärkt und ohne Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit nahmen wir noch einen Augenschein „im“ Bühler, dem Nachbardorf inmitten des Rotbachtals im Appenzeller Mittelland (828 m ü. M.). Es entwickelte sich aus einem Bauerndorf zu einer Gewerbe- und Industriegemeinde, worauf Fabrikanten- und Arbeitermehrfamilienhäuser hinweisen, so etwa die „Chodhüser“ (Kothäuser), deren Name auf die Konstruktion mit Trockenmauern aus eingestampften Erd- und Lehmmassen hinweist. Das Türmlihaus (1790) ist ein herrschaftliches, spätbarockes Fabrikantenhaus. Das Dorf umfasst viele schöne Bauten. Solch ein kulturelles Erbe zu unterhalten und zu bewahren erfordert schon viel Kraft.
 
Dieses Strassendorf ist vor allem deshalb sehenswert, weil es zahlreiche ebenmässige Appenzeller Häuser mit geschweiftem Quergiebel gibt (auch das Türmlihaus gehört zu dieser Kategorie). Die reformierte Kirche wurde 1723 nach Plänen von Laurenz Koller und Jakob Grubenmann erbaut, wobei sie verschiedentlich geändert wurde. So wurde der Zwiebelturm durch Johannes Höhener 1828/29 erbaut. Der Kirchenbau markierte die politische Abtrennung der Gemeinde Bühler von Teufen. Die Gemeinde hat heute etwa 1650 Einwohner.
 
Wer über Land und Leute einiges erfahren will, kann den Themenweg „Rond om Bühler“ (Rund um Bühler) abwandern. Der Weg führt vom Bahnhof über die Steig und die Weissegg auf die Hohe Buche, und dann geht’s hinab zum Weissbach und zum Ausgangspunkt zurück (etwa 2,5 Stunden). Überall im Appenzellerland warten heimelige Wirtschaften auf Heim- und Einkehrer. Die Appenzeller Bahnen, die das Privatauto ersetzen, sorgen dafür, dass man auch einmal etwas Währschafteres als Blöterliwasser trinken kann. Aber wer dennoch mit dem Auto ankommt, findet überall genügend Parkplätze. Weder in Teufen, Gais oder im Bühler habe ich Parkgeldschlucker gesehen. Wenn’s hoch kommt, muss man in einer Blauen Zone die Parkscheibe einstellen.
 
Die Appenzeller sind bescheiden und gastfreundlich. Auch das macht den Aufenthalt bei ihnen so angenehm. Bei ihnen zählt nicht die Menge, sondern das Spezielle, Eigenwillige. Davon können sie nicht genug bekommen ... und servieren.
 
Anhang
Die Molkenkur in Gais 
Die Molkenkur mit spezieller Berücksichtigung von Gais ist im Buch „Richtig gut einkaufen“ von Heinz Scholz, erschienen 2005 im Verlag Textatelier.com GmbH., CH-5023 Biberstein, beschrieben (Seiten 126/127):
 
Schon im Jahr 400 v. u. Z. verordnete der berühmte griechische Arzt Hippokrates Eselsmilch und Molke als Heilmittel. Nachkommen schätzten die Molke als Heilwasser, mit dem sich reinigen, ausleiten, entschlacken, aktivieren, regenerieren und abführen liess.
 
Fürsten, Staatsmänner, Gelehrte, Künstler und Kaufleute pilgerten schon im 18. Jahrhundert nach Gais ins Appenzellerland zur Molkekur. Die Menschen hatten Stoffwechselleiden. Sie waren zu dick, litten unter Gicht, Verstopfung, Darm- und Leberleiden. Am frühen Morgen wurde die Ziegenmolke auf dem Dorfplatz an die Kurgäste ausgeschenkt. Den ersten Schoppen trank man nüchtern, ein 2. und ein 3. folgten in kurzem Abstand. Weitere Kurorte entstanden in nächster Nähe, nämlich Weissbad, Gonten, Heiden, Teufen, Walzenhausen. In Heiden zählte man 1903 um die 10 000 Kurgäste. Auch in Deutschland und Österreich wurden Molkeheilstätten eröffnet.
 
Die grüngelbe Molke, ein „Abfallprodukt“ der Käseherstellung, ist übrigens basenüberschüssig und kalorienarm.
 
Im Handel gibt es auch ein vergorenes Milchserum (Molkenkonzentrat, z. B. Molkosan). Das Milchserum wird aus frischer, teilweise vergorener Molke mit Zusatz von Milchsäure pasteurisiert. Das Molkenkonzentrat enthält viel basisch wirkende L(+)-Milchsäure, welche die Ausbreitung von krankheitsverursachenden Mikroorganismen und Fäulnisbakterien im Darm verhindert.
 
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