Textatelier
BLOG vom: 30.09.2009

Ballenberg: Schwere des bäuerlichen Seins luftig präsentiert

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Von Haus zu Haus, Stägeli-uuf, Stägeli-ab (treppauf, treppab), 7 Stunden lang und dennoch nicht alles gesehen: Das ist die Kurzformel, auf welche unser Besuch im Freilichtmuseum Ballenberg im Berner Oberland zu bringen ist.
 
Das Wiedersehen mit den 13 regionstypischen, landwirtschaftlichen Dörfchen, die inzwischen viel Zuwachs erhalten haben, bereitete Erbauung. Ich war kurz nach der Eröffnung Ende Mai 1978 erstmals dort gewesen. Vor allem ist mir noch die historische Drogerie aus Herzogenbuchsee BE (1778) in lebhafter Erinnerung geblieben. Sie wurde vom naturheilkundigen Drogisten und Teekenner Peter Oppliger gegründet, der heute auf dem Monte Verità (Nähe Ascona TI) eine Teeplantage betreibt. Jetzt sind über 100 alte Bauern-, Wohn- und Gewerbebauten, wobei eine Funktion in die andere übergehen kann, auf dem Ballenberg versammelt. Gleichwohl vermittelt das hügelige und teilweise bewaldete Gelände noch immer den Eindruck von ländlicher Abgeschiedenheit und Weite; es ist der Hektik entzogen.
 
Das von beschaulichem Leben erfüllte Freiluftmuseum spiegelt alle Schweizer Landesteile im möglichst passenden topografischen Umfeld. Die Handwerker und Betreuer – über 200 Personen sind hier beschäftigt, wovon etwa 30 vollamtlich ‒ nehmen sich Zeit für ausführliche Gespräche über das Leben von damals. Dabei findet ein Austausch von Wissen und Erfahrungen statt. So führte uns zum Beispiel Fritz Gafner in die Kunst der Herstellung von Schindeln ein, dem einst billigsten Deckmaterial für Hausdächer und Fassaden: Der Fichtenstamm, der nur wenige Äste haben sollte, wird in 40 bis 60 cm lange Stücke zersägt, und diese werden geviertelt. Mit dem Schindeleisen, einem zweckmässig abgewinkelten Messer, spaltet der Schindelmacher das Holz in einem Schindelbock mit tiefen, breiten Kerben in 5 bis 6 mm dicke und 10 bis 15 cm breite Schindeln, von denen für ein 100 m2 grosses Dach etwa 25 000 Stück nötig sind. Mit der Schindelherstellung überbrückte man früher die Winterflaute. Auf dem Ballenberg werden übrigens Kurse über die Kunst des Schindelmachens veranstaltet.
 
Im nahen Weinbauernhaus, ein Fachwerkgebäude mit horizontalen und schrägen Streben, das aus Richterswil ZH stammt, begegneten wir am 21.09.2009, dem Tag unseres Besuchs, Elisabeth Abegglen, mit der wir über die auffallend kurzen Betten sprachen. Diese Kürze sei nicht unbedingt darauf zurückzuführen, dass die Leute früher eben kleiner gewesen seien, sondern man habe im Bett die Beine angezogen, sagte die fachkundige Frau, die gerade die Wäsche einer Liegestätte in der Stube ordnete. Die Redensart, jemand habe alle Viere von sich gestreckt, habe einst bedeutet, man sei tot.Und diesem Schicksal wollte man durch eine eingerollte Liegeposition vorbeugen.
 
Die Konfrontation mit dem bäuerlichen, handwerklichen Leben in den vergangenen Jahrhunderten als ein vitales Kapitel Kulturgeschichte findet auf dem Ballenberg in allen Variationen statt. Wir Schweizer werden an unsere Herkunft aus einem Volk der Hirten, das in einem Bauernstaat lebte, erinnert. Das Dasein war in den vergangenen Jahrhunderten nicht leicht. Die Schwere des Seins drückt sich besonders im Innern der Häuser aus, welche nicht nur die Bedürfnisse und die Lebensweise, sondern auch das Wesen des Erbauers spiegeln. Auffällig sind die vielen niederen und dunklen Räume, die meist durch Rauch geschwärzt sind. Manchmal waren die Feuerstellen offen; man sprach dann von Rauchhäusern, in denen fast alles russgeschwärzt war. Besonders lichtarm waren vor allem die Küchen, obschon meistens darin gegessen wurde; nur in feudaleren Bauten gibt es spezielle Esszimmer. Das massive, nachgedunkelte Holz, das unter seinem Alter ächzt, wirkt bei aller Heimeligkeit schwer, bedrückend.
 
Wenn man selber, wie ich, altersmässig die Ballenberg-Tauglichkeit erreicht hat (ich wurde trotzdem nicht als Ausstellungsobjekt entdeckt), begegnet man vielen Elementen, die einen an die eigene Jugend erinnern, so das alte Schulzimmer mit den Holzbänken und den Schiefertafeln, die hohen Bettgestelle oder die Treppe neben dem Kachelofen. Religionskitsch mit der Darstellung blutender Herzen, der herumsteht oder an den Wänden hängt und mir die Stimmung schon immer verdorben hat, gehörte zum Interieur. Die trostlosen Bildnisse waren wahrscheinlich als augenfälliges Bekenntnis zur Religion aufgehängt für den Fall, dass der Herr Pfarrer unverhofft im Hause erscheinen würde.
 
Irgendwie fühlte ich mich in dieser miefig-muffigen und authentischen Atmosphäre nicht besonders wohl. Tatsächlich ist das Freilichtmuseum so gut angelegt, dass alles den Anschein erweckt, es habe schon immer hier gestanden. Es wirkt und ist echt.
 
Umso erfrischender war für mich der Besuch des Hauses von Matten (Kanton Bern, um 1570 erbaut), dessen Originalsubstanz (Kantholz-Blockkonstruktion auf einem gemauerten Unterbau) zwar erhalten, doch innen nach den heutigen Wohnbedürfnissen umgestaltet und mit einem mit Schindeln verpackten kleinen Anbau ergänzt wurde. Das nur schwach geneigte Pfetten-Rafendach ist nach wie vor mit Schindeln gedeckt. Insgesamt ist dies eine gelungene, lobenswerte Erneuerung durch den Berner Architekten Patrick Thurston.
 
Das Spannungsfeld zwischen Tradition und heller, einladender Moderne ist entspannt. Die herkömmliche Raumaufteilung wurde beibehalten. In der ehemaligen Rauchküche steht eine moderne Kochinsel. Zweifellos ist das insgesamt ein Impuls zur Rettung und Erneuerung alter Bausubstanz am Ursprungsort.
 
Und dann ein Wiedersehen: Unterwegs habe ich den Werkhofschopf von 1711 angetroffen, einen klassischen Ständerbau aus Tannenholz, der früher in der Nähe der Ketten- bzw. Aarebrücke in Aarau stand, und an dem ich auf dem Weg zur Arbeit im Bus mehrere tausendmal vorbeigefahren bin. Der luftige Holzbau mit dem Holzgitterwerk steht auf einem Sockel aus behauenen Jurakalksteinen – ein Lager mit guter Luftzirkulation.
 
Besonders angetan haben es mir auch die Hauslandschaften aus dem Tessin, die im abfallenden Geländeteil des Ballenbergs hervorragend platziert sind. Hier spielen Wirtschaftsbauten wie Heuställe eine bedeutende Rolle, aber auch Speicher, Backhäuser, Waschhäuser, Kastaniendörrhäuser, Milch- und Weinkeller, Trotten, Ölen (Ölpressen), Mühlen, Stampfen, Eiskeller, Dengelhäuschen und Histen (ein riesiges Gestell, auf das Getreidegarben geschichtet werden). Imposant ist der Hof von Novazzano („La Pobbia“) aus dem 14. bis 19. Jahrhundert, in dem gerade die Seidenraupenzucht beschrieben und 1:1 praktiziert wird. Zudem findet sich hier auch eine kleine Ausstellung über die Schablonen- oder Rollenmalerei, mit der Wände verziert wurden. Der Gutshof ist mit seiner Seitenlänge von 44,7 Metern das bisher üppigste Objekt im Freiluftmuseum; er ist die Verkörperung des Agrarkapitalismus. Das Zentrum bildet ein romantischer Innenhof, in dem ein Tessiner Ristorante betrieben wird und der das Zentrum des sozusagen höfischen Lebens war.
 
Eva liess keine Treppe, keinen Estrich und keinen Keller aus, und wenn ich hoffte, dass wenigstens ein abseits stehendes Häuschen wie der Käsespeicher von Wasen BE ihrer Aufmerksamkeit entgangen sei, hatte ich mich getäuscht. Wir frequentierten noch schnell das Gasthaus „Degen“ aus Hünenberg ZG (1891), im Stil des Spätbiedermeier erbaut, genehmigten uns im Freien einen belebenden Kaffee, so dass uns Kachelöfen und das Einbaubuffet verborgen blieben. Im Übrigen wurde von uns systematisch alles abgesucht und erkundet – zwischen 10 und 17 Uhr. Doch dann reichte die Zeit für die Kapitel „Jura“ und „Zentrales Mittelland“ nicht mehr aus. Und eine gewisse Müdigkeit stellte sich nach all dem Wandern und Treppensteigen, dem Beobachten und Einordnen in die Geografie und in historische Abläufe schon ein.
 
Der Ballenberg ist eine faszinierende, mustergültige Einrichtung. Das Museum lebt, gerade auch wegen der rund 250 Bauernhoftiere, die dort ebenfalls ihren Raum gefunden haben – sogar Zugochsen sind darunter. Sie alle vergrössern die Anziehungskraft einer komprimierten Schweiz, in der es sogar noch einen kleinen, bald zugewachsenen See (Maximaltiefe: 90 cm), den Wyssensee, gibt. Seine Gesamtfläche von 3,65 Hektaren steht seit 1968 unter Naturschutz, auf dass auch Laichkräuter, Reptilien, Wirbellose und Amphibien auf ihre Rechnung kommen. Sie komplettieren den Ballenberg (www.ballenberg.ch) und ziehen ihrerseits Wirbeltiere an, die sich als höher entwickelt einschätzen und gern 18 CHF Eintritt bezahlen. Der Gegenwert ist enorm.
 
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