Textatelier
BLOG vom: 21.02.2009

Ein Aufbruch: Die goldene Reise von Herrn Paradyne

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Diese Novelle – The Golden Journey of Mr. Paradyne – schrieb William J. Locke (1863–1930), ein bekannter englischer Autor und Dramatiker. Viele seiner Werke sind verfilmt und teilweise noch immer im Theater-Repertoire. Seine Sprache mutet mich heute heimelig altmodisch an.
 
In meiner Bibliothek finde ich immer wieder von mir bisher ungelesene Bücher, wie auch diese Novelle, als Erstausgabe von 1924 mit kräftig-farbigen Illustrationen von Marcia Lane Foster, von John Lane The Bodley Head Ltd. publiziert. Vor 2 Tagen habe ich diese Novelle mit wachsender Spannung und in einem Zug gelesen. Dabei erinnerte ich mich auch an „The History of Mr. Polly“ von H.G. Wells, das ich einst für meine English A-Level-Prüfung studieren musste. Beide Geschichten greifen ins Leben von verheirateten Männern ein, die sich zunehmend von ihrem tristen, eintönigen Alltag erdrosselt fühlen.
 
Der Titel „Goldene Reise“ deckt die Rückreise ins persönliche Glück von Herrn Cosmo Paradyne auf, einem erfolgreichen Anwalt, der mit seiner Frau im wohlhabenden Vorort von Ealing (London) lebte, nein: vegetierte. Eines Nachts litt er an Schlaflosigkeit, von einem Gerichtsfall, den er vorbereiten musste, geplagt. Wo erwachte er? In einer Kajüte? Dumpf erinnerte er sich, dass er mit seiner Frau bitter nötige Ferien geplant hatte. Spukhaft blitzten Bilder auf. Er sah sich im Flanell-Nachthemd vors Haus treten. Oder entstieg er der Schiffskabine in Le Touquet, unterwegs nach Boulogne? Litt er an Gedächtnisschwäche? Das war doch alles so absurd. Herr Paradyne wusste genau, wer er war. Am letzten Freitag hatte sich seine Tochter Viola verheiratet, erinnerte er sich. Sie gestand ihm, dass sie bald nach Indien verreisen werden. „Das ist doch weit weg“, wandte er ein. Worauf sie lachend erwiderte: „Du hast dir doch nie vorgestellt, dass ich mein ganzes Leben in Ealing verbringen werde.“
 
Einige Tage später speiste Herr Paradyne mit seiner Frau zu Abend. Den Hammelbraten fand er zäh. Seine dünnlippige Frau widersprach ihm sauer, sie finde den Hammelbraten ausgesprochen lecker. „Roach“ ist der beste Metzger weit und breit – und gleich in der Nachbarschaft. „Wenn es ihn nicht gäbe, ginge sie nicht zu ihm (sic!).“
 
Hier spürt der/die werte Leser/in die Kluft zwischen dem Ehepaar. Das Gespräch nahm seinen Fortgang. Herr Paradyne erwähnte Violas Absicht, nach Indien auszuwandern, und fügte verhalten hinzu: „Vielleicht findet sie es hier etwas zu provinziell.“ Martha, seine Frau, fuhr ihm über den Mund: „Hier ist es, wo ich meine Tage beenden werde“, und fügte verhalten hinzu: „Hier hast du ja alles, was du brauchst: gute Luft und deinen Golf.“ Herr Paradyne hatte keinen Appetit mehr. Er winkte den Butler mit dem Dessert weg und gab vor, hundemüde zu sein, „dog-weary“, wie er sagte, und entschuldigte sich. Natürlich verstehe sie das, sagte sie höflich. „Aber trotzdem, es macht keinen Spass, sich mit einem toten Mann abzugeben.“
 
Dieser letzte Satz wird zum springenden Punkt in der Geschichte: Paradynes Aufbruch und Flucht aus seinem eintönigen Leben. Ich muss hier viele lesenswerte Seiten seines Dilemmas überspringen. Immerhin, eine Freude hatte sich Cosmo Paradyne in seinem Leben bewahrt: die Freude an Blasinstrumenten. Er spielte im lokalen Symphonieorchester entweder die Oboe oder die Klarinette.
 
Nach dem Abendessen mit seiner Frau zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, wollte sich eine Zigarre anstecken und kramte in seiner Hosentasche. Zu seiner Riesenüberraschung fand er dort ein silbernes Flageolett (kleine Schnabelflöte). Müde versank Cosmos Kopf zwischen den Armen, die auf seinem Pult aufgestützt waren, und schlief ein. Von der Strasse her hörte er im Traum einen jungen Mann das Flageolett spielen, eine Melodie, die ihm haften blieb, ein Motiv, das er nie zuvor gehört hatte. Cosmo trat zu ihm auf die Strasse und gab ihm ein Almosen.
 
Im Verlauf der Geschichte trifft Cosmo den Musiker immer wieder, der ihm zuletzt sein Flageolett schenkte. Er brauche es nicht länger, erklärte er, da er fortan das Piccolo spielen wolle. Jetzt muss ich wirklich viele Seiten überspringen, denn die Novelle hat ihrer 53. Bleibe somit dahingestellt, wie Cosmo zum Besitzer eines Zigeunerwagens wurde und mit diesem Gefährt einen Ort, unweit von Chartres, erreichte. Dort stieg er in einem bescheidenen Gasthaus ab – und liess das „Hôtel du Grand Monarque“ links liegen. Was würde Martha von ihm denken? ging ihm durch den Sinn. Er muss ihr unbedingt ein Telegramm schicken.
 
Gebräunt und staubig nahm er Platz in der Herberge und kam mit den Leuten in fliessendem Französisch ins Gespräch. Ja, er sei ein „marchand forain“ (ein Hausierer). „Rillettes“ (Würste) wurden ihm aufgetischt, die er mit Genuss verzehrte. Dazu trank er den herben lokalen Rotwein, und er stopfte sich nachher seine Pfeife mit billigem Tabak. „My god“, sagte er, „es ist gut, am Leben zu sein.“
 
Hoffentlich habe ich nicht zu viel aus William J. Lockes Geschichte ausgeplaudert – ein empfehlenswertes Lesevergnügen, am besten aus 1. Hand zu lesen! Ich nehme an, dass dieses Werk auch in deutscher Sprache aufliegt, obwohl ich es in meiner Schnellsuche im Internet nicht gefunden habe. Auch ihnen wünsche ich eine „goldene Reise“, wenn es not tut – und keineswegs auf den Mann beschränkt.
 
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