Textatelier
BLOG vom: 29.10.2008

In Freiburg i. Br., wo das Neue alt ist und das Alte neu wird

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
„Warum wird nicht einfach von Freiburg gesprochen? Warum hat sich im Zeitalter der Datenspeicher und Postleitzahlen die Bezeichnung ,Freiburg im Breisgau’ oder noch überflüssiger ,Freiburg i. Br.’ so hartnäckig gehalten? Als ob es für Freiburg noch eines Beiwortes bedürfte, damit es auch jeder auf der Landkarte finden kann.“
 
Diese Fragen hat Wolfgang Fink im Buch „Freiburg – Leben in einer liebenswerten Stadt“, 1986 im Verlag Karl Schillinger, Freiburg im Breisgau (wie es im Impressum heisst) gestellt. Ich will sie ihm gern beantworten: Wenn immer ich als Schweizer Freiburg höre, weiss ich nicht, ob damit Freiburg im Breisgau oder unser schweizerisches Freiburg im Üechtland (französisch: Fribourg) gemeint ist. Zudem gibt es auch in Niedersachsen (Freiburg/Elbe), Schlesien und Lothringen Orte, die sich Freiburg nennen. Also ist manchmal schon eine gewisse Differenzierung nötig. Doch können wir Schweizer mit den deutschen Freiburgern nachfühlen: Wir vermeiden für unser Freiburg den Zusatz (im Üechtland) wenn immer möglich ebenfalls, da diese Landschaftsbezeichnung veraltet ist. Das Üechtland ist Landschaft zwischen Aare und Saane in den schweizerischen Kantonen Bern und Freiburg, die von der deutsch-französischen Sprachgrenze (dem so genannten „Röstigraben“) durchzogen ist. So wäre es wohl am besten, von Freiburg D und Freiburg CH zu sprechen.
 
Dieses Tagebuchblatt handelt ausschliesslich von Freiburg D am Fusse des Schwarzwalds, zu dem wir nach einem Besuch in Lenzkirch-Saig und Titisee durchs Höllental hinuntergestiegen waren. Der luftige Freiburger Hauptbahnhof, 1999 eingeweiht, macht einen grossstädtischen Eindruck, zumal er der Knotenpunkt des südbadischen Bahnverkehrs ist. Vom romantischen, 1845 ersten Bahnhofgebäude ist längst nichts mehr zu sehen. Neben dem Neubau sind architektonisch abgestimmte moderne Bauten mit lichtdurchlässigen Glas/Metall-Fassaden und an der Eisenbahnstrasse eine „bluespot“-Station, welche die aktuellen Luftmesswerte anzeigt. Bei unserer Ankunft am 15. Oktober 2008 um 16 Uhr waren Ozon, NO2, SO2, CO und Feinstaub samt und sonders im grünen Bereich: gute Luft.
 
Die nachwirkende Geschichte
Am 27. November 1944 bombardierten die Engländer die damals vorhandenen Bahnhof- und Geleiseanlagen zusammen mit einem grossen Teil der Stadt ganz unerwartet, nachdem die deutsche Luftwaffe Bomben auf Oxford GB abgeworfen hatte. Angeblich war dies der Grund dafür, dass die strategisch unbedeutende Lazarett- und Universitätsstadt Freiburg zu einem grossen Teil in Schutt gelegt wurde. Ein schreiender Erpel im Stadtgarten hatte das Desaster angekündigt. Etwa 55 000 Bomben, auch Brandbomben und Luftminen, gingen auf die Stadt nieder, obschon es hier keine nennenswerte kriegswichtige Industrie gab. Aber keine einzige Bombe traf das aus warmem rotem Sandstein in den Formen der Gotik erbaute Münster mit dem „schönsten Turm der Christenheit“ direkt. Dies war eine Meisterleistung der so genannten „Pfadfinder“-Vorhut, die über dem Münster warnende Leuchtbäume abgeworfen hatten, und der Bombenschützen, trotz allem. Wenn man erlebt, wie unkontrolliert die aggressiven, militärisch bedrohlichen Amerikaner heute in aller Welt herumbomben, war das eine stattliche Leistung in Bezug auf die Zielgenauigkeit. Doch selbstverständlich ist dies kein Trost dafür, dass gegen 3000 Menschen ums Leben kamen und über 2000 Gebäude zertrümmert wurden. Viele der zerstörten Häuser waren nach den Kriegszeiten im 18. Jahrhundert erneuert worden; Fachwerkbauten erhielten einfache verputzte barockisierende Fassaden.
 
Münster-Erneuerungen
Der filigrane, bis zur Spitze 116 m hohe Münsterturm weist dem Reisenden, der soeben auf dem Bahnhof angekommen ist, den Weg zur Altstadt. Bald ist man beim schräg im grossen Platz liegenden Münster und staunt. Die Turmspitze war bei unserem Besuch wohl zu 4/5 rundum eingerüstet, nur die Spitze war noch nicht umgarnt. Die Gerüst-Verstrebungen erweckten den Eindruck eines aufgestellten, reich bestückten Nähnadelkissens.
 
Laut einer Orientierungstafel werden zuerst die Steinoberflächen durch Sandstrahlung gereinigt. Dann werden die Schäden kartiert und behoben. Zu stark verwitterte Steine werden ausgebaut und in der Münsterbauhütte genau kopiert. Wie man erfährt, stammen 75 % der Münster-Bausubstanz aus der Zeit vor 1330, und diese soll wenn immer möglich erhalten werden, wobei aber jede Sanierung ihrerseits etwas Bausubstanz kostet. Die Turmsanierung wurde von einem Masswerkteil initiiert, das sich aus dem Turmhelm gelöst hatte und auf eine Plattform fiel, wofür Rissbildungen, Abschalungen und Rostsprengungen die Ursache waren; Verwitterung und Luftschadstoffe nagen ununterbrochen am Stein. Die Sanierung ist ein Gemeinschaftswerk von Münsterbauverein, Erzdiözese, Stadt Freiburg, privaten Stiftungen und privaten Unterstützern. Im Münsterladen kann mit dem Kauf von Münsterwein, Münsterziegeln und Posaunenengeln (220 Euro pro Stück) etwas an die Kosten beigetragen werden.
 
Genau dieser Turm mit seinem gotischen Masswerk (8 Gratrippen und 7 horizontale Steinbänder mit eingelegtem schmiedeeisernem Ringkern) ist es ja im Wesentlichen, der dem Münster sein hohes Ansehen verschafft hat. Mit diesem Meisterwerk war in den 70er-Jahren des 13. Jahrhunderts begonnen worden. Im unteren Teil steigt der Turm bei viereckigem Grundriss schlank himmelwärts, wobei die Strebepfeiler allmählich zurücktreten, aber nach vorne und zu den Seiten ausgreifen. Über dem Viereck sitzt ein Achteck, wobei das noch immer vereinfachend beschrieben ist. Denn die auf die Konsolen herauskragende Galerie mit der Masswerkbrüstung, jetzt hinter dem Baugerüst versteckt, ist komplizierter als ein Achteck. In einer Beschreibung von Martin Gosebuch („Das Münster“, in: „Merian“ 3 XVI“ von 1963) wird das als die „geistreichste Vermittlung zwischen Unter- und Oberbau eines Turms, die uns aus aller gotischen Baukunst bekannt ist“ bezeichnet. Es handelt sich um eine Zwölfeckgalerie, die die Zahlensymbolik von 4 und 8 enthält. Darüber beginnen sich die Rippen und die davon eingespannten Masswerkfelder schräg zu neigen, um als Steinfiligran der Spitze des Helms zuzustreben. Das ist eine unbändige Orgie der geometrischen Fantasie, die sich, wie es scheint, mit dem Baufortschritt ständig intensiviert hat.
 
Doch kehren wir auf den Boden zurück: Das hohe, reich gestufte Tor zieht einen förmlich ins Innere des Münsters, falls man nicht in der Vorhalle mit ihren reichen Bildwerken sozusagen hängen geblieben ist. Hier sind oberhalb von Drähten, welche wahrscheinlich Stadttauben abhalten sollen, die biblischen Gestalten der Heilsgeschichte und des Marienlebens versammelt, ebenso die moralisierenden Figuren der klugen und törichten Jungfrauen, welch letztere offenbar noch immer nichts dazu gelernt haben. Auch gotische Drolerien (Dolliges) wie der Nasentrompeter und der betende Teufel sind nach wie vor da, der enttäuscht wurde, weil die Wägung einer armen Seele ergab, dass der Mensch gar nicht so sündig war, wie er es erhofft hatte. Die Frage ist, ob die Waage richtig geeicht war.
 
Nach 1200 wurde über 300 Jahre lang am Freiburger Münster gebaut, wobei man sich am Vorbild des Basler Münsters orientierte, von wo auch die Steinmetze kamen. Bernhard Schindler, ein Basler und Publizist im aktiven Ruhestand, der uns nach Freiburg begleitete, machte uns im Inneren des Münsters mit Stolz auf diesen Zusammenhang aufmerksam.
 
Der Innenraum des Freiburger Münsters, teilweise ebenfalls eine Baustelle, war abends gegen 18 Uhr bereits recht dunkel; überall wurden Kerzen angezündet; das Netz der Wölbrippen wirkte grau bis schwarz, wie alles andere auch. Die feinen Einzelheiten verschwanden und liessen die Grundkonstruktion des Langhauses mit dem Kreuzrippengewölbe zur dominanten Grösse werden. Der Seitenschub der Mauern wird an 4 Eckpunkte nach aussen an Strebebögen weitergegeben, was eine verminderte Wandstärke und grosse farbige Fenster erlaubte. Die Metzler Orgelbau AG baut auf einem neuen Chorpodest gerade eine neue Michaelsorgel ein; bis im Dezember 2008 soll dieses Instrument vollendet und intoniert sein.
 
Im Langhaus werden das Strebensystem und die Wandflächen saniert; hier sind die Steinmetze und Bildhauer der Münsterbauhütte am Werk (www.muensterbauverein-freiburg.de).
 
Die Altstadt
Die im alten Stil wieder errichteten Gebäude der Altstadt gewinnen allmählich wieder etwas Patina. Und ich erhielt, als ich mich vor und nach dem Münster-Besuch auf dem Rathausplatz umsah, den bestimmten Eindruck, dass die Freiburger mit ihrem Entscheid, die Stadt nach altem Muster bei unverändertem Grundriss nach Zähringer-Art (grosses Strassenkreuz mit geschwungenen Parallelstrassen und einer grosszügigen Stadtmitte) wieder aufzubauen, richtig gehandelt haben, selbst wenn historisierende Neubauten nie den Charme von Jahrhunderte alten Traditionsbauten haben können. Aber hätte die moderne Architektur nach dem Krieg hier ihre Selbstverwirklichung betrieben, wäre wohl vieles bereits wieder abbruchreif. Man spürt schon, dass hier das Alter aufgesetzt ist; insbesondere das Martinstor wirkt etwas zuckerbäckerhaft. Aber im Allgemeinen fühlt man sich in der Altstadt behaglich und in die Vergangenheit zurückversetzt. Diese Wiederaufbauleistung verdient allen Respekt; ich bin beeindruckt.
 
Geschichte
Auf dem 2er-Tram stand Zähringen (ein Stadtteil im Norden), eine Erinnerung auch an die Geschichte, manifestiert durch die Burg Zähringen. Die Zähringer, macht- und raumpolitisch innovativ und mit strategischem Geschick ausgestattet, gelten als Stadt-Gründer. Sie waren richtige Altliberale (Vorgänger der Neoliberalen), die ihr Geld und Gut durch die Förderung des Handels zu mehren suchten, ohne allerdings – und darin besteht der Unterschied zu den Neoliberalen – die Freiheiten der Bürger über Gebühr einzuschränken. Überwachungskameras und Ganzkörperscanning waren damals nicht im Einsatz, um nur 2 Beispiele zu erwähnen.
 
Die Nachfolger des aussterbenden Zähringer Herzoggeschlechts waren die Grafen von (Urach) Freiburg (1218), dann die Habsburger (1368), die, vom Elsass kommend, über den Aargau (Schloss Habsburg) trotz Degenerationserscheinungen ihr Weltreich aufbauten, und schliesslich (ab 1806) waren unter anderen die Markgrafen Baden D (auch in der Schweiz gibt es ein Baden!) tonangebend; nach 1677 gehörte Freiburg vorübergehend, d. h. während 20 Jahren, zu Frankreich.
 
Der Münsterplatz
Mit der Münsterumgebung, dem Münsterplatz, zu dem 11 Gassen führen und wo einst ein Friedhof war, gehen die Freiburger erfrischend locker um. Da stand ein mobiler Verkaufsstand für Waffeln, Crèpes und Kaffee, und bei „Peters’ Wursthäusle am Münster“ war viel Betrieb; was da aus der Pfanne und vom Grill kam, fand guten Absatz. Auch die Strassenrestaurants wie das Hotel „Rappen“, das auch eine altfreiburgische Weinstube ist und im studentischen und politischen Leben eine Rolle spielte und neben dem Kornhaus mit seinem mächtigen Staffelgiebel steht, waren an diesem milden Abend gut frequentiert – die Stadt lebt offensichtlich. Auch die Alte Wache („Haus der badischen Weine“) gehört zu den Münster-Nachbarn. Und wir suchten im Eis-Cafe Lazzarin Zuflucht und erfrischten uns pflichtbewusst mit einem Eiskaffee nach italienischer Art. Ich gab dem Kellner eine Handvoll Euro-Münzen, die er ohne nachzuzählen im Geldbeutel verschwinden liess.
 
Wir begaben uns zum Hauptbahnhof und fuhren via das Himmelreich und das Höllental nach Titisee zurück, verabschiedeten uns von Bernhard und waren nach knapp 2 Stunden wieder im westlichen Aargau. Im Kofferraum, aus dem ein bezirzender Duft aufstieg, hatten wir noch 2 Stücke Zwiebelkuchen aus Titisee (von der Konditorei Heck) in die Schweiz eingeführt, die wir im Backofen etwas wärmten und die zu einem Glas Weisswein himmlisch schmeckten. Zudem hatten wir in einem Käsespezialgeschäft mit einer ausnehmend freundlichen und kompetenten Bedienung einen Pont l’Évêque, einen Käse aus der Normandie in der quadratischen Holzschachtel, gekauft und dazu einen Feigensenf aus dem Tessin, womit wir einen Multikultitag würdig abschliessen konnten.
 
Nicht immer muss man Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um zu Lustbarkeiten zu kommen. Wir finden solche in der Schweiz, und bei Bedarf können wir das Angebot durch einen Sprung über die Grenze ins nahe Deutschland problemlos erweitern.
 
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