Textatelier
BLOG vom: 12.05.2008

Die mysteriösen Misteln in den Baumkronen und ihr Krebsgift

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Wenn ich irgendwo Mistelbüsche auf einem Baum sitzen sehe, bin ich immer beeindruckt. Ausserhalb der Vegetationsperiode treten diese besonders eindrücklich oft auf alten, verwahrlosten Obstbäumen in Erscheinung. Irgendwie spürt man, dass diese kugeligen, gabelästigen Sträucher, die bis 1 Meter Durchmesser erreichen können, mit ihren weissen oder leicht gelblichen Beeren, die klebriges „Fleisch“ enthalten, noch viele Geheimnisse bergen. Unter anderem gelten sie als Glücksbringer. Schliesslich sind es ja Heilpflanzen.
 
Einer besonders üppigen Ansammlung von solchen Halbparasiten bin ich am 1. April 2008 bei meiner Rückwanderung von der Burg Hohenklingen unterhalb des Grenzübergangs (D/CH) beim Hof Bleiki nach Stein am Rhein SH begegnet (siehe Blog „Stein am Rhein (2): Hoch klingt das Lied von Hohenklingen“ vom 08.04.2008).
 
Den Kronen uralter, verwahrloster Obstbäume setzten die Misteln sozusagen noch eine zusätzliche Krone auf, die aus einem grünen Schaum zu bestehen scheint. Es muss sich in solchen Fällen um die Laubholz-Mistel (viscum álbum ssp. álbum) handeln (daneben kennt man noch die Tannen-Mistel [V. a. ssp abiétis] und die Föhren-Mistel, die auch Kiefern-Mistel [V. a. ssp. austríacum] genannt wird); sie kommen in Mittel- und Südeuropa und Südskandinavien vor.
 
Misteln sind wirklich wundersame Pflanzen. Sie ernähren sich von den Wirtsbäumen, saugen von ihnen Wasser und Mineralsalze ab, so dass sie in sicherer Höhe ohne Bodenkontakt auskommen. Mit Licht und dem eigenen Blattgrün verwandeln sie den Baumsaft zu wertvollen Pflanzennährstoffen. Das Wild, für das sie ein Leckerbissen wären, kann sie nicht erreichen, und deshalb konnten sich die Misteln die Mühe sparen, Schutzstoffe gegen das Gefressenwerden auszubilden. Und auch auf das Fliegenlernen können sie verzichten; denn für ihre Vermehrung sind Vögel wie vor allem die dunkelbraun auf hellbeigem Grund gepunktete Misteldrossel zuständig. Sie scheidet die klebrigen Samen aus, und diese keimen alsbald auf oder in der Rinde des Baums. Die Jungpflanzen bilden Wurzeln, die „Senker“ genannt werden; sie erreichen nur den letzten Jahrring, und dieser wird angezapft. Bei dieser guten Ernährung kann die Mistelpflanze bis 70 Jahre alt werden – und das ist sehr alt, wie ich aus eigener Erfahrung weiss. Und sie haben viele nützliche Seiten.
 
Auf der Seite „Wirtschaft steirisch“ der Zeitschrift „Neues Land“ hat der Wildökologe Andreas Kranz in tierfreundlicher Art geschrieben: „Was liegt also näher, als mit Säge und Leiter bewaffnet dieser (Winter-)Tage einmal in den vielleicht schon vergessenen Obstgarten zu gehen, um zumindest ein paar dieser Misteln vom Baum zu schneiden und am Boden dem Wild den Tisch zu decken. Die ohnehin meist alten Bäume werden über die Befreiung von diesem Halbparasiten auch froh sein; denn gibt es zu viele davon, können sie den Wirtbaum so belasten, dass er eingeht.“ Andreas Kranz fügte noch bei, für das kränkelnde Rehwild könnten die geschnittenen Mistelzweige gleichsam zur Apotheke werden.
 
Vielleicht dient das Mistelbrauchtum zur Weihnachtszeit demselben Zweck der Entlastung der Bäume; Heinz Scholz hat in seinem Blog „Weihnachtsbräuche (II): Das Küssen unterm Mistelzweig“ vom 25.12.2005 darüber im grösseren Zusammenhang berichtet.
 
Der Jagdaufseher Walter Hunziker, Hardfeldstrasse 39, CH-4600 Olten, den ich auf dem Born bei Aarburg im Januar 2008 kennen lernen durfte, ist ebenfalls ein Mistel-Freund, und er hat mich netterweise mit einer reichen Dokumentation über Misteln ausgestattet. Dazu gehört ein Sonderdruck aus „MISTILTEINN 2001/2“, einer Zeitschrift des Instituts Hiscia, das sich in CH-4144 Arlesheim mit der Krebsforschung befasst. In dessen Schrift kommen Resultate aus der Arbeit mit der Mistel zur Darstellung. Unter www.hiscia.ch sind übrigens viele ausführliche Schriften zur Krebstherapie mit Mistel-Substanzen aufrufbar – ein gewiss wertvoller Tip für alle Interessierten.
 
Im erwähnten Sonderdruck Giftprozesse der Mistel – eine Polarität“, der auch online verfügbar ist, breitet Konrad Urech eine Fülle von zusätzlichen Informationen über die Mistel aus, die auch zur Leibspeise von Hirsch, Hase und Maus gehört und manchmal als beliebte Nahrung dem Vieh verfüttert wird, obschon sie auch eine toxische Wirkung entfalten kann. Die Tiere wissen im Unterschied zu uns allwissenden Menschen genau, was ihnen gut tut.
 
Eine Ausnahme innerhalb der Gattung Homo sapiens sind die anthroposophischen Naturheilkundigen, welche zum Beispiel bei der Krebstherapie verdünnte Mistelextrakte verwenden, die weit ausserhalb der letalen (tödlichen) Dosis liegen und ausserordentlich gut verträglich sind. Vor allem spielt dabei das Mistellektin I (insbesondere aus den Stängeln und dem Senker) eine Rolle, das inzwischen auch gentechnisch hergestellt werden kann. Auch die Viscotoxine, kleine Eiweissverbindungen mit einem hohen Anteil an schwefelhaltigen Aminosäuren, die vor allem an der Peripherie des Mistelbuschs vorkommen, gehören zur Giftsubstanzengruppe der Mistel, die in der richtigen Anwendung und Dosierung das Zellwachstum und die Erythrozyten (rote Blutkörperchen) beeinflussen können. Die Viscotoxine sind laut dem Forscher Urech eng mit den Cardiotoxinen der Schlangen (wie den Kobragiften) verwandt.
 
Gifte können Heilmittel sein: „Der überschiessenden Vitalität von Tumorzellen müssen Todesprozesse entgegengestellt werden“, und die Mistel kann mit ihren Giftsubstanzen im direkten Kontakt mit den Krebszellen die Potenz zur Auslösung des physiologischen und nekrotischen Zelltodes entfalten, wobei das Immunsystem gestärkt werden muss.
 
Diese stark verkürzte und entsprechend ungenaue Zusammenfassung ist keine Heilanleitung, sondern sie wurde hier lediglich als ein Beispiel für die noch unzureichend ergründete Wunderpflanze Mistel erwähnt. Und bei meinen nächsten Begegnungen mit diesen Aufsitzerpflanzen werde ich noch ehrfurchtsvoller zu ihnen aufschauen und hoffen, dass ihnen ein paar alte Obstbäume als Lebensraum erhalten bleiben. Sie vollenden dann subtiler und bedächtiger, was die Kettensägen-Akrobatik im Eiltempo bewirkt. Und inzwischen können sie bei Mensch und Tier noch ein paar Krankheiten heilen, wenn alles gut geht.
 
Hinweis auf ein weiteres Blog zum Thema Mistel
 
Hinweis auf einen Artikel in der Rubrik „Glanzpunkte“
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
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