Textatelier
BLOG vom: 24.04.2008

Ethik: Die Würde der Schweiz und der Pflanzen-Kreaturen

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Man kann den Umstand gar nicht genügend loben, dass es in der Schweiz seit April 1998 eine nationale Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) gibt, die auch Pflanzen als Lebewesen ernst nimmt und zweifellos zu einem umfassenderen Naturschutz beiträgt, auch wenn es mit dem Vollzug gelegentlich nicht so weit her ist wie es die Kreaturen gern hätten. Nach dem Schutz des menschlichen Lebens und dem noch immer ungenügenden Tierschutz (siehe Abschuss eines Bären, der menschliche Abfalleimer ausräumte und dessen Gefahrenpotenzial etwa dem eines Eichhörnchens entsprach) ist es sinnvoll, nicht nur den Tier-, sondern auch den Pflanzenschutz voranzutreiben, was nicht allein wegen der grassierenden gentechnologischen Abänderungsmanie dringend ist.
 
Die 3 Pflanzenschutz-Konzepte
Die Schweizerische Bundesverfassung kennt 3 Schutzkonzepte für Pflanzen: den Schutz der Biodiversität, den Schutz der Art und die Verpflichtung, im Umgang mit Pflanzen der Würde der Kreatur Rechnung zu tragen. Der Verfassungsbegriff der Kreatur umfasst Tiere, Pflanzen und andere Organismen. Da bei der Abwägung von wirtschaftlichen Interessen und Naturschutzanliegen in aller Regel die Geschäftemacherei obsiegt, wurde der Geltungsbereich der Würde der Kreatur im Gentechnikgesetz auf Tiere und Pflanzen allerdings eingeschränkt, ein unwürdiges Vorgehen.
 
Der Pflanzenschutz kann aus 2 Gründen erfolgen: weil Pflanzen für den Menschen von Nutzen sind (das bewährteste aller Schutzargumente) oder aber um ihrer selbst willen, weil man ihnen einen Eigenwert zugesteht. Sobald etwas über einen Eigenwert verfügt, hat es auch eine Würde.
 
Es gibt zwar Menschen, die so etwas als lächerlich erachten. Ihnen ist wohl nicht zu helfen. Sie befürchten, dass das menschliche Leben zu anspruchsvoll und zu kompliziert würde, wenn sein Handeln bis ins Detail rechtfertigungspflichtig würde. Aber wohl alle Menschen sind davon überzeugt, dass der Mensch um seiner selbst willen zählt; denn die Bibel-Religionen kennen und verherrlichen den Anthropozentrismus – der Mensch steht im Mittelpunkt. Auch darüber müsste im gegebenen Zusammenhang einmal diskutiert werden mit dem Ziel, Geistesverwirrungen zu bereinigen, so weit das überhaupt noch möglich ist. Der Mensch ist ein Bestandteil der Biosphäre; wenn man ihn mit einer höheren Macht ausstattet wird es katastrophal. Alle Erfahrungen lehren das.
 
Bei Pflanzen kann man locker diskutieren; hier ist der Sachverhalt weniger eindeutig: Darf ich meinen gepflästerten Vorplatz und den Garten noch jäten, von „Unkraut“ (wild wachsenden Pflanzen) befreien oder muss ich tatenlos zusehen, wie überall Wald entsteht? Und darf ich meinen Kopfsalat noch essen? Gewiss. Man darf, wenn es gute Gründe gibt; dann sind Eingriffe legitimiert. Umgekehrt bestand in der EKAH immerhin Einigkeit darüber, „dass Pflanzen nicht willkürlich geschädigt oder zerstört werden dürfen“. Doch blieb unklar, was dies in der Praxis bedeuten soll und wie die Güterabwägung, die immer von Willkür begleitet ist, aussieht. Ich denke da an den Einsatz von Herbiziden (Pflanzenabtötungsmitteln).
 
Der Wert des Rosenbuschs
Am Beispiel eines Rosenbuschs erläutert die Kommission in ihrem neuen Bericht „Die Würde der Kreatur bei Pflanzen“ 3 denkbare Wertkonzeptionen:
– Der Rosenbusch hat einen instrumentellen Wert, weil er als Rosenhecke vor unerwünschten Eindringlingen schützt.
– Der Rosenbusch hat einen relationalen Wert, weil die schönen Rosen, die er trägt, an die verstorbene Grossmutter erinnern.
– Der Rosenbusch hat einen Eigenwert unabhängig davon, ob er jemandem nützt oder jemand ihm eine Bedeutung zuschreibt.
 
Die EKAH versuchte nach solchen Erwägungen mit Praxisbezug zu klären, welche moralischen Objekte zählen: das Pflanzenkollektiv, die Pflanzenart oder das einzelne Lebewesen (Individuum). Eine klare Mehrheit sprach den Pflanzenkollektiven einen Eigenwert ab. Doch waren sich alle Mitglieder einig darüber, dass wir im Umgang mit Pflanzen aus moralischen Gründen zurückhaltend sein müssen, weil man andere Mitspieler der Natur beeinträchtigt, allenfalls sogar ausschaltet und damit ins Beziehungsgefüge eingreift.
 
Zu unterlassen seien deshalb ein willkürliches Schädigen oder Zerstören. Wörtlich schreibt die Kommission: „Der Begriff der willkürlichen Schädigung oder Zerstörung bedeutet ,Schädigung oder Zerstörung ohne vernünftigen Grund’. Pflanzen nicht willkürlich zu zerstören bedeutet, dass nicht irgendein Grund ausreicht, eine Zerstörung zu rechtfertigen, sondern dass ein vernünftiger Grund vorliegen muss. Als Beispiel für eine solche Handlung diente in der Diskussion der Bauer, der, nachdem er für die Tiere das Gras gemäht hat, auf dem Heimweg am Wegrand ohne vernünftigen Grund mit der Sense Blumen köpft. Allerdings bleibt an dieser Stelle offen, ob diese Handlung verurteilt wird, weil durch sie eine bestimmte moralische Haltung des Bauern gegenüber anderen Lebewesen zum Ausdruck kommt oder weil den Blumen selbst etwas Schlechtes angetan wird.“
 
Was steht im Zentrum?
Eine knappe Kommissionsmehrheit ging davon aus, dass die Art nicht um ihrer selbst willen zählt, weil sie entweder nur von instrumenteller bzw. rationaler Bedeutung oder weil der Begriff eine Nominaldefinition, das heisst ein abstrakter Ordnungsbegriff ist. Und die Fragen rund um die Frage nach der Position des Pflanzen-Individuums wurden vertagt, zumal neben dem Anthropozentrismus, der die Interessen von Menschen höher gewichtet als gleichartige von anderen Lebewesen, weitere Standpunkte möglich sind:
 
Theozentrismus: Grundlage dieser Position ist der Gedanke eines Schöpfergottes und damit verbunden der Geschöpflichkeit aller Lebewesen. Was um seiner selbst zählt, ist Gott. Alle Lebewesen zählen kraft ihrer Beziehung zu Gott. (Diese Position vertrat kein Kommissionsmitglied.)
Ratiozentrismus: Diese Position macht die Frage, ob Wesen um ihrer selbst zählen, von ihrer (potenziellen) Vernunftfähigkeit und ihrem abstrakten Sprachvermögen abhängig.
Pathozentrismus: Diese Position stellt auf die Empfindungsfähigkeit von Lebewesen ab. Sie zählen moralisch um ihrer selbst willen, wenn sie empfindungsfähig sind und etwas in irgendeiner Form als gut oder schlecht erfahren können.
– Biozentrismus: Lebewesen sind moralisch um ihrer selbst zu berücksichtigen, weil sie leben.
 
Nur eine kleine Gruppe der Kommission hält Pflanzen für empfindungsfähig, was mich persönlich erstaunt, denn ohne solche Empfindungen könnten sich die Pflanzen an ihrem festen Standort wohl nicht behaupten. Wahrscheinlich sind sie die empfindsamsten aller Lebewesen überhaupt. Die meisten Mitglieder gaben an, es nicht zu wissen, aber schliessen es nicht zum vorneherein aus.
 
Vorläufige Schlussfolgerungen
Insgesamt kamen die EKAH-Mitglieder zu diesen Schlussfolgerungen:
 
1. Willkür
Die Kommissionsmitglieder halten einen willkürlich schädigenden Umgang mit Pflanzen einstimmig für moralisch unzulässig. Zu einem solchen Umgang zählt z. B. das Köpfen von Wildblumen am Wegrand ohne vernünftigen Grund.
2. Instrumentalisierung
Für die Mehrheit ist die vollständige Instrumentalisierung von Pflanzen – ob als Kollektive, als Arten oder als Individuen – moralisch rechtfertigungspflichtig.
3. Eigentum an Pflanzen
Ebenfalls für die Mehrheit verschliessen sich Pflanzen – ob als Kollektiv, als Art oder als Individuum – aus moralischen Gründen dem absoluten Eigentumsbegriff. Niemand darf gemäss dieser Auffassung nach völlig freiem Belieben mit Pflanzen umgehen. Die Minderheit kommt zum Schluss, dass im Umgang mit Pflanzen, sofern sie Eigentum sind, keine Einschränkungen gelten.
4. Genetische Veränderung
Die genetische Veränderung von Pflanzen steht gemäss Position der Mehrheit der Idee der Würde der Kreatur nicht entgegen, solange Eigenständigkeit, d. h. Fortpflanzungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit gewährleistet sind. Sozialethische Schranken der genetischen Veränderung von Pflanzen bleiben vorbehalten, sind jedoch nicht Gegenstand der hier geführten Diskussion.
5. Patentierung
Für die Mehrheit ist die Frage nach der ethischen Rechtfertigung der Patentierung von Pflanzen eine Frage der Sozialethik, nicht eine Frage der Berücksichtigung von Pflanzen um ihrer selbst willen, und deshalb ebenfalls nicht Gegenstand der hier geführten Diskussion. Für die Minderheit ist die Patentierung der Pflanzen als solche moralisch unzulässig und widerspricht der Würde der Kreatur bei Pflanzen.
6. Mannigfaltigkeit
Pflanzen genetisch zu verändern, soll gemäss Auffassung der Mehrheit stets verbunden sein mit dem Bedacht auf Erhaltung und Sicherung der natürlichen, d. h. nicht vom Menschen gewirkten Beziehungsgefüge.
7. Verhältnismässigkeit
Jede Handlung mit und gegenüber Pflanzen, die der Selbsterhaltung von Menschen dient, ist für die Mehrheit moralisch gerechtfertigt, soweit sie den Prinzipien der Verhältnismässigkeit und der Vorsorge folgt.
 
Der unvollendete Bericht
Die EKAH war beauftragt, Vorschläge für die Konkretisierung des Verfassungsbegriffs der Würde der Kreatur auszuarbeiten. Ihr Bericht, der am 14. April 2008 veröffentlicht worden ist, kann eine Diskussionsgrundlage sein; doch sagt er eigentlich mehr über die Zusammensetzung der Kommission aus als dass er die Frage nach der Würde der Pflanzen klar beantwortet. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass solche Diskussionen noch in der ethischen Steinzeit sind: Der biblische Anthropozentrismus, der bis zur verheerenden Vergottung des Menschen ausgewachsen ist, hat die meisten Menschen, die zum Untertan-machen aufgerufen wurden, gegenüber anderen Lebewesen kalt und gefühllos gemacht.
 
Darauf fusst auch die rücksichtslose Gentechnologie: der Mensch als Schöpfer. Dass diesbezüglich wenigstens die Terminator-Technologie als verwerflich erkannt wurde, ist schon einmal etwas. Dieser perfide Terminator-Trick bewirkt, dass die Bauern ihre Pflanzen nicht mehr selber durch Wiederaussaat vermehren können und infolgedessen von US-Gentechnikunternehmen wie Monsanto abhängig werden; der Same muss von den Bauern immer wieder neu gekauft werden, und so kommen sie in eine vollkommene Abhängigkeit. Für die Durchsetzung dieser brutalen globalen Geschäftemacherei und Beherrschung der menschlichen Ernährung bedarf es der Abschaffung der kleinen und mittleren Bauern, die als zu teuer und zu ineffizient empfunden werden; dass sie am besten an die Ökologie angepasst sind, wird geflissentlich übersehen. In der Schweiz wird diese Landwirtschaftsindustrialisierung durch Bundesrätin Doris Leuthard unter allen möglich schwammigen Vorwänden und mit „Charme-Offensiven“, die wahrscheinlich von PR-Leuten ausgeheckt werden, intensiv vorangetrieben. Das gehört zur bedingungslosen Unterordnung unter die EU, die eine Bundesratsmehrheit auch ohne formellen Beitritt bewerkstelligen will und schon weitgehend verwirklicht ist. Die grossindustrielle Landwirtschaft wird über die Vorstufe EU besser globalisierungs- und Monsanto-tauglich sein, ein verheerender Vorgang mit dem bereits angetönten Resultat, dass uns die USA auch noch über die Nahrungsmittel in den Griff nehmen und gefügig machen kann. Und das läuft dann unter dem Begriff Freihandel!
 
Die Schweiz ist im Bereiche des Naturschutzes weltweit führend. Diese stolze Führungsrolle führt zu einem erhöhten nationalen Ansehen. Durch die Einleitung einer gewissermassen amtlichen Diskussion über die Würde von Tieren und Pflanzen, die nicht nur Selbstzweck sein darf, kann es trotz Mehr- und Minderheitsgezerres noch erhöht werden, schon eine beachtliche Leistung. Das vermittelt die Grundlagen, die Behörden kritischer als bisher zu überwachen und weitere Globalisierungsschritte rechtzeitig abzublocken.
 
Die vereinheitlichte Welt braucht unbedingt ein Land, das aufzeigt, dass sich ohne Unterwerfung an die USA/EU besser und auf höherem ethischem Niveau leben lässt.
 
Allgemeine Hinweise
EKAH-Kommissionsbericht „Die Würde der Kreatur“ im Wortlaut:
Jürg Stöcklin: „Die Pflanze. Moderne Konzepte der Biologie“, Band 2 der Reihe «Beiträge zur Ethik und Biotechnologie», Herausgeberin: EKAH, 2007. Das Buch kann gratis heruntergeladen werden:
http://www.ekah.admin.ch/uploads/media/d-Beitrag-Pflanze-2007.pdf
Weitere Auskünfte:
PD Dr. Klaus Peter Rippe, Präsident der EKAH, Tel. 076 433 89 22
Ariane Willemsen, Geschäftsführerin der EKAH, Tel. 031 323 83 83
 
Die Mitglieder der EKAH (2008‒2011)
Rippe Klaus Peter, PD Dr. phil. I, Dozent an der Universität Zürich, an der Fachhochschule Nordwestschweiz und an den veterinärmedizinischen Fakultäten Bern und Zürich (VetSuisse), Vertretungsprofessur für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe (D), Leiter des Büros Ethik im Diskurs, Zürich (Präsident).
Baertschi Bernard, docteur en philosophie, maître d'enseignement et de recherche (MER) au département de philosophie de l'Université de Genève.
Bürki Kurt, Prof. Dr., Leiter des Instituts für Labortierkunde der Universität Zürich.
Jotterand Martine, professeur associé de cytogénétique, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Lausanne.
Klauser-Reucker Cornelia, dott. med. in medicina generale, Caslano.
Koechlin Florianne, Biologin, Blauen-Institut, Münchenstein.
Münk Hans Jürgen, Prof. Dr. theol., Professor für Theologische Ethik, Direktor des Instituts für Sozialethik, Universität Luzern.
Pfleiderer Georg, Prof. Dr. theol., Ordinarius für Systematische Theologie / Ethik, Universität Basel.
Schefer Markus, Prof. Dr. LL.M., Ordinarius für Staats- und Verwaltungsrecht an der juristischen Fakultät der Universität Basel.
Sitter-Liver Beat, Prof. Dr. phil. I, Professor für Philosophie an der Universität Freiburg und Lehrbeauftragter an der Universität Basel.
Thurnherr Urs, Prof. Dr. phil. I, Professor für Philosophie an der pädagogischen Hochschule Karlsruhe (D).
Zanetti Véronique, Prof. Dr., professeur en éthqiue et philosophie politique à l'Université de Bielefeld (D).
 
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