Textatelier
BLOG vom: 29.02.2008

Hunter-Strategie: Wie Rohr AG zum Anhängsel von Aarau wird

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Wenn ich durch eines der Fenster auf der Südseite unseres Hauses schaue, sehe ich zum Dorf Rohr AG (Bezirk Aarau) hinüber, das auf einer Terrasse über dem Aaretal (Rohrer Schachen) steht und sich als langes Band präsentiert. Es ist ein Strassendorf, das es eigentlich nie schaffte, ein richtiges Dorfzentrum zu entwickeln, auch wenn es dort schon eine Kernzone als ortsplanerisches Element gibt. Eine lange Linie hat es mit der Zentrumsbildung schwer. Doch mit den soeben entstandenen Geschäfts- und Wohnbauten („Zentrumsüberbauung Auenpark“) auf der Nordseite der Hauptstrasse (Rupperswil‒Aarau) ist so etwas wie ein Ortskernchen entstanden.
 
Die Römerstrasse
Rohr war immer ein Dorf, das in bescheidenen Verhältnissen lebte. Berühmte Bauten gibt es dort nicht, abgesehen von einer Römerstrasse im Waldgebiet Suret, dem Wald zwischen Rohr/Buchs AG und Rupperswil, die aber kaum mehr zu finden ist. Im Mai 2005 baggerte die örtliche Zivilschutzorganisation (ZSO Suret) hoffnungsfroh. Sie konnte den Verlauf der halbkreisförmigen Strasse (vielleicht um einen ehemaligen Aaremäander herum) ausfindig machen. Das Strassenbett ist zerfallen – zurückgeblieben ist eine Mischung aus Steinen und Humus.
 
Die ehemalige Strasse diente wahrscheinlich als Verbindung von Vindonissa (Windisch bei Brugg) – Olten – Solothurn (Solodurum) nach Avenches (Aventicum), das Kaiser Vespasian (9‒79) zur Hauptstadt Helvetiens ausbauen liess, und weiter nach Genf. Der Aarauer Historiker Dr. Alfred Lüthi dazu: „Wenn uns der Rohrer Boden auch nur dürftige Spuren der Frühzeit preisgibt, bietet er uns jedoch ein ausserordentlich interessantes Zeugnis der Strassenbaukunst. Die oben erwähnte Heerstrasse von Olten nach Vindonissa führte über Aarau – ungefähr im Verlauf der heutigen Bahnhofstrasse –, überquerte die Suhre unweit der früheren Suhrebrücke und zog dann weiter, immer in schnurgerader Richtung, etwa der heutigen Hinterdorfstrasse entsprechend, in den Suret. Durch diesen ausgedehnten Wald ist der einst kunstvoll gebaute Strassendamm noch mehrere hundert Meter genau zu verfolgen. Im Gegensatz zu den vorrömischen Verkehrswegen war es kein Graben, kein Hohlweg, sondern ein sorgfältig aufgeschütteter Damm, weshalb oft an solchen Strassenabschnitten der mittelalterliche Flurname ,Hochstrasse’ haftet. Die einstige Fahrbahnbreite belief sich auf etwa 5 m.“ Inzwischen wurde der Damm im Rahmen der wechselnden Bewirtschaftungen abgetragen; nur unter der schützenden Walddecke blieb er einigermassen erhalten. Man nimmt an, dass die Strasse nicht über Rupperswil verlief, sondern eher den Weg über die Aare nach Auenstein am linken Aareufer nahm.
 
Die grosse Ständeruhr
Ein markanter Punkt in der Rohrer Dorfzeile, wie ich sie von Biberstein aus sehe (das Dorf mit den vielen Gärten hat zwar einigen Tiefgang nach Süden), ist die 1960 eingeweihte reformierte Kirche. Sie hat einen viereckigen, nach Norden abgeschrägten Turm, der das Schiff nur wenig überragt. Der Kirchenkörper sieht von Biberstein aus wie ein Dreieck hinter dem Turm aus. Es ist eine bescheidene, zum Dorf passende Kirche, die nicht klotzt oder protzt, sondern einfach ein Zeichen setzt. Im oberen Teil des Turms drehen sich die Zeiger einer grossen Uhr, von der ich von meinem Garten aus die Zeit ablesen kann, wenn es nicht gerade neblig oder dunkel ist. Auch die Viertelstundenschläge, die je nach Windverhältnissen lauter oder leiser sind, dienen mir zur zeitlichen Orientierung, auch nachts. Bei Föhnlagen habe ich das Gefühl, die Glocken hingen im Schlafzimmer. Für solche Zeitzeichen, die ich rund um die Uhr erhalte, bin ich den freundlichen Rohrern dankbar, da ich ja nicht immer eine Armbanduhr tragen möchte. Ich weiss, dass dort nette Menschen wohnen. Als ich kürzlich auf der Gemeindekanzlei einen Ortsplan kaufen wollte, rief der Beamte fröhlich aus: „Was, kaufen! Wir schenken Ihnen diesen!“
 
In diesem Rohr gibt es eine Coop-Filiale, eine Bäckerei, eine Metzgerei, und im Gemeindehaus hat die Hypothekarbank Lenzburg einen Bancomaten installieren lassen, bei dem ich jeweils wieder Taschengeld beziehen kann kann, wenn der Portemonnaie-Inhalt zur Neige geht. Tankstellen und autogewerbliche Anlagen gibt es in grösserer Menge, und sogar meine Toyota-Garage Schmid ist dort. Was nicht im Bibersteiner Schlossladen zu kaufen ist, kann ich mir also nach einem etwa 20-Minuten-Fussmarsch in Rohr besorgen. Die Strasse dorthin durch den Schachen und vorbei am Oberen Schachenhof und zum verkehrserschwerenden, auf Dorfhöhe ansteigenden Schuelrain ist schmal, hat Kurven, wovon eine rechteckige, und sie ist für Fussgänger und Motorisierte ebenso unbequem wie für die Anwohner. Der Verkehr hat in den letzten Jahren auffällig zugenommen, ist das doch so etwas wie eine behelfsmässige Ostumfahrung von Aarau. Der Staffeleggzubringer wird da eine Entlastung bringen, falls er je vollendet werden sollte. Dort muss noch das Grundwasser überwunden werden.
 
Der weitsichtigte Lehrer Vogt
Für die Nachbargemeinde Rohr empfinde ich also heimatliche Gefühle, und auch wenn ich dort nicht stimmberechtigt bin, so nehme ich doch am Dorfgeschehen immerhin beobachtend teil. Selbstverständlich habe ich auch das 1987 erschienene Buch „950 Jahre Rohr. Vom Landgericht zur Wohngemeinde“ von Alfred Lüthi nicht nur im Römer-Teil gelesen. Darin ist (ab Seite 243) in geradezu prophetischer Art die Frage behandelt: „Soll Rohr auf seine Selbständigkeit verzichten?“ So soll der „rührige Dorfpolitiker Lehrer Vogt“ am 4. Februar 1916 einen Brief an den Aarauer Stadtrat geschrieben haben, worin er die direkt an Rohr angrenzende Stadt Aarau für einen Zusammenschluss („Gemeindeverschmelzung“) zu gewinnen versuchte, vor allem angesichts der schwierigen Finanzlage von Rohr.
 
Schon früher hatte es ähnliche Verschmelzungsbestrebungen gegeben, die ihren klaren Grund hatten: In Rohr hatten sich im Rahmen der Industrialisierung von Aarau viele Arbeiter niedergelassen, die nicht das grosse Geld, aber stattliche Schullasten brachten. Es kam nach 1916 zu einem Hin und Her. Der damalige Gemeinderat Rohr war gegen eine Verschmelzung, und der aargauische Regierung lehnte die Gemeindefusion im Herbst 1920 ab, nachdem Wege gefunden wurden, die Steuerlast erträglich zu machen (das gleiche Schicksal hatte Unterentfelden). Der Finanzausgleich löste das Problem elegant.
 
Inzwischen hat sich die Einwohnerzahl von Rohr auf 2900 Personen (Ende 2006) entwickelt, eine Verfünffachung innert 100 Jahren; die gesamte Gemeindefläche beträgt 340 Hektaren. Und zudem hat sich die neoliberale Globalisierung mit ihrem Trend zu Fusionen und Vereinheitlichungen eingestellt, der grösste kollektive Irrlauf aller Zeiten. Zur erklärten Politik des Regierungsrats des Kantons Aargau gehört es, finanzielle Anreize zu Gemeindefusionen zu schaffen – dann würde alles einfacher und billiger. Und in einer Zeit, die der Würde und Souveränität weniger Bedeutung als pekuniären Aspekten beimisst, verfängt solch eine Haltung. Zwar ist sie wie auch das Sparen am falschen Ort nicht ganz neu: Von geldgierigen Menschen sagte man früher, sie würden selbst ihre eigene Grossmutter für 20 Franken verkaufen. Die Haltung hat sich jüngst einfach akzentuiert.
 
Der Steuerfuss in Rohr ist mit 120 % (bezogen auf die Kantonssteuer) noch immer verhältnismässig hoch, was Rückschlüsse auf die Finanzlage erlaubt. Und so kam es wie es kommen musste: Am Sonntag, 24. Februar 2008, haben Rohr und Aarau bei Gemeindeabstimmungen die Gemeindefusion (das furiose Projekt „Furora") mit überwältigenden, fast identischen Ja-Stimmen-Anteilen (Aarau: 82,8 %; Rohr: 82,5 %) gutgeheissen. Aarau möchte weiter wachsen wie ein modernes Wirtschaftsunternehmen, und der Aarauer Stadtammann Marcel Guignard sieht im Glanzresultat eine Signalwirkung für andere umliegende Gemeinden (wohl wie Biberstein) und hiess sie schon jetzt „für eine Zusammenarbeit willkommen“. Er betreibt also eine ähnliche Hunter-Strategie wie die selige Swissair, hoffentlich ohne die Bodenhaftung aufzugeben.
 
Der Kanton ohne Zentrum und die Gemeindefusionitis
Der Aargau ist ein ausgesprochen dezentralisierter Kanton, und bisher gab es keine Stadt mit mehr als 20 000 Einwohnern, und genau das habe ich immer als besonders angenehm empfunden. Die Hauptstadt Aarau hat eine Randlage und bloss rund 15 670 Einwohner (zur höchsten Einwohnerzahl hat es im Aargau Wettingen gebracht: rund 18 940).
 
Die Kleinstädte haben alle ihren eigenen Charme, eine eigene Identität, die nicht durch plattwalzende Zentrumsfunktionen egalisiert wird. Sie sind greifbar, überschaubar. Doch jetzt macht sich selbst im Aargau eine merkwürdigen Tendenz zum Grössenwachstum (statt zum qualitativen Wachsen) bemerkbar: Gemeindefusionen lautet das Zauberwort.
 
Der Modetrend auf der untersten Stufe (Gemeinde) auf der Treppe zur globalen Einheitswelt trifft erfreulicherweise zunehmend auf Widerstand. So hat sich, auf Veranlassung des Hallwiler Gemeindeammanns Walter Gloor ein „Komitee für Gemeindeautonomie und einen solidarischen Aargau“ gebildet, das sich gegen das faktische regierungsrätliche Fusionsdiktat wehrt, gegen die „Gemeindereform Aargau (GeRAG)“ also. Es wirft der Kantonsregierung vor, die so genannte „Gemeindereform“ werde „mit einem teuren bürokratischen Apparat“ durchgeboxt. Das Mittel für die Massnahmen zur Optimierung der Aufgabenerfüllung“, wie es in der lokalpolitischen Managersprache heisst, sind eine Art von Bestechungsgeldern für die fusionswilligen Gemeinden.
 
Gemeindefusionen müssten laut Komitee von unten kommen und nicht von oben diktiert werden. Das Komitee befürchtet, dass der Aargau durch die Gleichmacherei in Richtung Zentralismus die besten Kräfte verliert, Menschen also, die mitdenken und mitgestalten. Im grösseren Verbund ist das weniger attraktiv. Nach einer Studie des Politologen Andreas Ladner von der Universität Lausanne hat die Gemeindegrösse tatsächlich einen Einfluss auf die demokratische Qualität; diese sinkt mit zunehmender Grösse.
 
Selbstverständlich gilt dem erwähnten Komitee meine volle Sympathie. Ich räume durchaus ein, dass es Kleingemeinden gibt, die sinnvollerweise eine regionale Zusammenarbeit suchen. Das gabs schon immer, sogar auf Kirchgemeindeebene: Buchs und Rohr haben sich zur Reformierten Kirchgemeinde Buchs-Rohr zusammengeschlossen (vor 1946 gehörte der Pfarrkreis Buchs‒Rohr zur Kirchgemeinde Suhr). Doch wo keine akute Not besteht, sollten Eigenständigkeit und Selbstbestimmungsrecht auf einem überschaubaren Gebiet nicht leichtfertig verscherbelt werden. Wenn sich eine kleine einer grossen Gemeinde anschliesst, spielt das Prinzip der Subordination (Unterordnung) automatisch, gewissermassen zwangsläufig.
 
Wir Schweizer erfreuen uns der weltweit tiefschärfsten Demokratie mit den verschiedenen Ebenen Gemeinde, Kanton und Bund. Es gibt kein Land auf dieser Erde, in dem sich die Bürger so detailliert zum politischen Geschehen äussern und die Entwicklung mitbestimmen können. Wir haben uns an diesen Vorzug gewöhnt, und es ist offensichtlich, dass wir diese Freiheitsrechte nicht genügend würdigen, nicht genügend zu schätzen wissen. Und wenn es in Zukunft wahrscheinlich zu immer mehr Zwangsfusionen (wie im Tessin: Aquila im Bleniotal und Bignasco im Maggiatal) kommen wird, dürfte der Widerstand schwach sein. Die Bereitschaft, sich föderalistische Strukturen etwas kosten zu lassen und sich dafür einzusetzen, schwindet offensichtlich.
 
Gemeindefusionen sind an der Tagesordnung. So wurde am 24.02.2008 auch die Fusion der beiden Oberwalliser Gemeinden Mörel und Filet beschlossen. Abgelehnt wurde immerhin die Fusion im Val d'Hérens von Nax, Mase und Vermamiège. In Nax und Mase votierten die Stimmberechtigten zwar deutlich Ja. Vernamiège verwarf das Projekt jedoch knapp mit 67 zu 61 Stimmen bei einer Stimmbeteiligung von 87,5 %. Zunehmend tauchen neue Fusionsprojekte auf: Uerkheim zu Zofingen ist das jüngste.
*
Wenn ich nach dem Fusionsbeschluss nach Rohr schaue, erkenne ich keinen Unterschied zu vorher. Das Dorf ist in einen Dunstschleier gehüllt und schweigt. Nur die Glocken verbreiten ihre Viertelstundenschläge und ihr Vespergeläute um 16 Uhr weiterhin, als ob nichts geschehen wäre. Natürlich hat sich nichts Unrechtsmässiges getan, sondern die Bevölkerung hat einfach das Einverständnis zur Preisgabe einiger Selbstbestimmungsmöglichkeiten und damit Freiheiten erklärt, auf dass das Leben etwas billiger werde.
 
Die Freiheit als erodierende Rarität aus dem Reich des Abstrakten ist zu einem Handelsgut geworden, wie alles andere auch.
 
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