Textatelier
BLOG vom: 06.10.2007

Erlebnisse im Kantonsspital Aarau (6): Gescheiterter Eingriff

Autor: Heiner Keller, Ökologe, Oberzeihen CH (ANL AG, Aarau)
 
Gescheiterter Eingriff und Krise: 12.09. bis 17.09.2007
 
Der Wiedereintritt ins Kantonsspital Aarau entwickelte sich zu einem neuen Abenteuer.
 
Ausgeruht, dokumentiert mit der Diagnose, Arztberichten und Ergebnissen der Blutuntersuchung, eingedeckt mit eigenem Süssmost und Häppchen einer hausgemachten Nusstorte habe ich mich bei Arbeitsbeginn im Sekretariat der Urologie im Kantonsspital Aarau zu melden. Ich sitze im Gang und warte. Der Ort ist wirklich gut: Hier kommen mit der Zeit alle Ärzte vorbei. So erscheint denn auch der Assistenzarzt, der als erster (letzte Woche schon) mittels Ultraschall einen „Wasserschleier über der Niere“ erkannt hat. Ich stehe auf, gebe ihm die Hand und sage: „Sie haben Wasser erkannt. Jetzt bin ich mit dem Wasser wieder hier.“ Ohne Kommentar eilt er weiter.
 
Die Sekretärin ist sehr nett. Sie telefoniert etwas herum und scherzt. Sie erkundigt sich nach dem Befinden, meint, die Ärzte würden sich mit der Diagnose befassen. Die Zeit vergeht mit Warten: Ich hätte noch länger zu Hause bleiben können, denn so dringend scheint die Sache auch wieder nicht zu sein. Dann kommt der Bescheid: „Sie kommen wieder in die Pflegeabteilung im 8. Stock. Sie kennen ja den Weg, die Leute warten auf Sie.“ Als sie meine schwere Tasche bemerkt, anerbietet sie sich, mir beim Tragen zu helfen und mich zu begleiten. Ich bin froh, und so zotteln wir gemächlichen Schritts durch den Gang in den Lift. „Werden Sie in dieser Zeit nicht vermisst?“„Nein, nein. Niemand ist unersetzlich. Wenn ich nicht da bin, bin ich nicht da. Den Rest erledige ich nachher.“
 
Beim Liftausgang, im Gang, den ich schon so gut kenne, werden wir von einer älteren „Oberschwester“ in Empfang genommen. Die Pflegefachfrauen in Ausbildung haben heute Prüfung; deshalb ist die alte Garde wieder im Dienst. Resolut begrüsst sie mich und schnauzt: „Das ist dann ein ordentlicher Spitaleintritt.“ Damit meint sie wohl, ich müsse mich unten am Schalter melden. Die Sekretärin beruhigt sie: „Ist schon in Ordnung, Herr Keller wurde zu uns eingewiesen, und ich mache das.“ Erleichtert sage ich: „Vielen Dank.“ Und ich werde in ein Viererzimmer ganz am Ende des Gangs begleitet. Die „Oberschwester“ sieht meine Couverts mit den Bildern. Auf einem steht als Absender „Kantonsspital Baden“. „Ah, dort waren Sie auch noch“, lautet ihre Feststellung, begleitet von einem angedeuteten Augenaufschlag. „Nein, ich war nicht dort, ich war im Medizinischen Zentrum in Brugg, und die arbeiten mit dem Kantonsspital Baden zusammen.“
 
Sobald ich eingeräumt habe und mit dem Spitalnachthemd und den weissen Socken im Bett liege, kommt die Oberschwester mit dem Servicewagen und einem Christbaum mit Infusionen. „So, Herr Keller, jetzt brauche ich Blut, und Sie bekommen eine Infusion.“ Innerlich zucke ich zusammen: Jetzt beginnt der Unfug von vorne. Noch nicht gewillt zu resignieren, ich bin ja wieder ausgeschlafen, sage ich bestimmt und unmissverständlich: „Nein.“ Die Dame stutzt. Sie hat Erfahrung. Sie spürt, dass es mir Ernst ist. Ich versuche, ihr meinen Fall zu erklären. „Bitte sorgen Sie dafür, dass meine Diagnose zu den zuständigen Ärzten kommt. Bevor ich Blut gebe oder eine Infusion brauche, möchten Sie bitte einen Arzt vorbeischicken.“ Sie parkiert ihre Gerätschaften in einer Ecke und entfernt sich.
 
Im Zimmer liegen 3 Patienten. Ein munterer Herr, dem ein Teil der Niere entfernt wurde (allerdings nicht mit einem Schnitt wie bei mir, sondern mit Unterstützung eines Computers durch drei kleinere Öffnungen im Bauch), ein Mann aus Afrika, der meistens schläft, und ein älterer Bauer mit einem Täfelchen „Relative Ruhe“ am Bett. „Was heisst das?“ frage ich ihn. „Ich muss einfach still liegen und hoffen, dass die Flüssigkeit aus einem Schlauch im Körper aufhört zu fliessen, sonst muss ich nochmals operiert werden.“ Mit stoischer Ruhe ergibt er sich Tag und Nacht in sein Schicksal. Derweil der muntere Herr telefoniert, Telefone entgegennimmt und seine ganze Bekanntschaft fernmündlich und just in time an seinen Spitalerlebnissen teilnehmen lässt.
 
Ich begegne auch der Physiotherapeutin wieder, die mir nach der Operation aus dem Bett geholfen hat. Ich bedanke mich bei ihr. Sie blickt mich nur unverbindlich an und muss weiter. Offensichtlich will sie sich ausser den 2 verordneten Lektionen gemäss Pflegeplan in keinerlei Diskussion einlassen.
 
Es klopft an die Tür, und mein Arzt erscheint. Gross, stattlich, weisser Mantel, schwarze Haut und ein strahlendes Lachen auf dem Gesicht. „Afrika“, denke ich; der Mann weiss sicher, dass es im Spital auch Körper und Seele zu befriedigen gilt. Aber nein, mir bleibt wirklich nichts erspart: „Ja, Herr Keller, wir machen jetzt die Untersuchung Ihres Bluts, damit wir wissen, woher das Fieber kommt, und nachher schauen wir, was wir machen können.“ Ich glaube, meinen Ohren nicht zu trauen: „Sind das die gleichen Untersuchungen, die hier letzte Woche schon gemacht wurden und deren Auswertung 3 Tage benötigt haben? Haben Sie geschaut, ob sie ein Resultat ergeben haben?“„Ah, Sie haben schon Untersuchungen gehabt. Ich muss schauen, was das Ergebnis war.“ Nach einer Weile kommt er wieder: „Die Untersuchungen haben kein Ergebnis gebracht.“ Ich lasse ihn wissen, dass ich das bei der Blutentnahme schon behauptet habe. Er weicht aus und schwafelt etwas von meinem Wasserbruch: „Wissen Sie, Herr Keller, Wasserbruch ist nicht so schlimm. Nur kosmetisches Problem. Können wir später lösen.“ Mir wird es langsam zu blöd: „Reden Sie doch nicht solches Zeugs. Ich bin mit einer klaren Diagnose hier. Die Bilder und die Blutwerte habe ich abgeliefert, und jetzt warte ich auf die Behandlung. Bevor die Behandlung nicht klar ist, gebe ich kein Blut und nichts. Telefonieren Sie bitte meinem Bruder, der mich eingewiesen hat, und lassen Sie sich informieren.“„Ah, Sie haben Diagnose dabei.“ Die Oberschwester bestätigt das Vorhandensein meiner Akten. Er hat sie nicht einmal geöffnet. „Ja, mit ihrem Bruder werde ich gerne telefonieren. Ist immer gut, einen Fall mit einem Kollegen besprechen zu können.“ So verlässt er mit der Oberschwester das Zimmer, und ich bin ihm nie mehr begegnet. Mit meinem Bruder hat er telefoniert, aber nur um ihm zu erläutern, ich gehöre ins Spital.
 
Unterwegs zur Vollnarkose
So liege ich da, ich armer Tropf, und harre nach dem ersten Abwehrgeplänkel der Dinge, die da kommen sollen. Essen und Trinken werden durch das Täfelchen „Nüchtern“ am Bett ersetzt. Eine Ärztin der Anästhesie erscheint. Aufgrund der guten Erfahrungen mit dieser Abteilung fasse ich sofort wieder Vertrauen: „Herr Keller, Sie bekommen am Nachmittag eine Vollnarkose. Unter Narkose wird Ihnen ein Schläuchlein durch die Blase, den Harnleiter bis in die rechte Niere gelegt. Anschliessend werden Sie, unterstützt durch Computertomographie, punktiert.“ Wiederum gehen wir den Fragebogen durch. „Sie können ruhig abkürzen, ich vertraue Ihnen.“ Später werde ich noch auf alle Risiken aufmerksam gemacht: Blase, Harnleiter, alles kann verletzt werden, und muss unterschreiben, dass ich darauf aufmerksam gemacht wurde, beziehungsweise einverstanden bin. Das Risiko liegt immer beim Patienten.
 
„Grossartig gescheitert“
Auf einmal geht es schnell. Ein Pfleger holt mich samt dem Bett, und schon befinde ich mich wieder in einem der engen Anästhesieräume. Wiederum eine sympathische Ärztin, diesmal sogar eine aus der Schweiz, Gesicht auf Augenhöhe. „Herr Keller, ich muss Ihnen eine Infusion in die Hand stecken. Das ist nötig. Wenn bei der Operation oder bei der Punktierung etwas passiert, müssen wir Ihnen rasch Mittel geben können.“ Ich erkläre ihr meine Angst, dass ich nachher die Infusion und den Christbaum nicht mehr loswerde. Sie versteht das. Einen entsprechenden Zettel „Nach der Operation zu entfernen“ will sie trotzdem nicht anbringen: „Ich kann das nicht machen. Ich weiss nicht, wie die Sache verläuft, und was nach der Operation ist, müssen die Ärzte, die operierten, entscheiden.“ Auf einmal eilt es. Ich bekomme die Maske auf Mund und Nase, die Schleuse zum Operationsraum öffnet sich. Ich erkenne im Zentrum eine grosse schwarze Fläche – hier werde ich liegen, geht mir durch den Kopf – von der Decke hängen Geräte. Die Wände sind irgendwie dunkel dekoriert. Rund um die Behandlungsfläche stehen aufgereiht Personen, die warten. Auf mich. Und dann weiss ich nichts mehr.
 
Im Aufwachraum ist weniger Betrieb als das letzte Mal. Ich liege irgendwo im Zentrum, weg von den Fenstern mit den Platanen. Ich habe keine Schmerzen und bin rasch wach. „Ah, Herr Keller, wie geht’s? Bitte ruhen Sie sich etwas aus, es geht für Sie gleich weiter.“ In kurzer Zeit werde ich abgeholt, und es beginnt eine neue Bettreise durch die Katakomben des Spitals.
 
Diesmal ist es ein fensterloser Raum mit dem Computertomographen, der aussieht wie ein grosses Willisauer-Ringli. Mehrere Damen helfen mir vom Bett auf den fahrbaren Schragen, der durch das Loch des Ringlis führt. Die Hände über dem Kopf, der Christbaum auf einer Seite der Maschine, liege ich auf der Seite. Ärztinnen stellen sich vor und erklären mir, dass sie jetzt von meinem Rücken aus an die Flüssigkeit in meinem Körper gelangen wollen. Mit regelmässigen Aufnahmen mit dem Computertomographen würden sie kontrollieren, wo ihre Nadel genau stehe. Ich sage nicht viel, und sie beginnen mit ihrer Arbeit in meinem Rücken. Sie diskutieren viel miteinander, ich dämmere vor mich hin und halte mich an die Anordnungen: „Einatmen, ausatmen, nicht mehr atmen.“
 
Irgendwie bekomme ich gar nicht richtig mit, was passiert, bis auf einmal jemand hastig flüstert: „Achtung, schnell raus, raus!“. Dann wieder Aufnahmen. Die Ärztinnen kommen auf die Seite, wo ich sie sehen kann und erklären mir: „Herr Keller, wir mussten den Versuch abbrechen. Wir sind ganz unten in ihren Lungenflügel gelangt. Wir konnten nicht ahnen, dass die Lunge so weit nach unten reicht. Die Lunge hat ein ganz kleines Loch. Wir sind froh, dass nicht mehr passiert ist und dass der untere Teil des Lungenflügels nicht eingefallen ist. Ob wir es nochmals versuchen, müssen wir zuerst mit dem Chef besprechen. Sie werden von uns hören. Auf jeden Fall müssen Sie diese Nacht noch einmal die Lunge röntgen, damit wir sehen, ob die Sache stabil bleibt. Es tut uns leid.“ Selbstverständlich muss meine Infusion bleiben, weil man noch nicht weiss, wie es weitergeht.
 
Ja, mir auch. Pech gehabt! Der Pfleger holt mich ab. Er fragt: „Wie ist es gegangen?“„Ich glaube, wir sind grossartig gescheitert“, antworte ich. Im Zimmer kommt wenig später die Nachricht: „Das Risiko für einen neuen Versuch ist zu gross. Es gibt im Moment keine weitere Operation.“ Dank Antibiotikatabletten habe ich keine Fieber mehr.
 
Unruhige Nacht
Um 21 Uhr werde ich zum Röntgen abgeholt. Im Spital herrscht Nachtbetrieb. Viele Gänge sind wie ausgestorben. Das gelblich-rötliche Licht lässt sie endlos lang erscheinen. Vor einer Schiebetür werde ich parkiert und zugedeckt. Der Pfleger läutet irgendwo und entfernt sich dann. Die Tür öffnet sich, und 2 fröhliche Damen, die eifrig miteinander scherzen, rollen mich in einen grösseren Saal. In der Mitte erkenne ich einen grossen Apparat mit vielen Armen, die wie Tentakel in die Luft ragen und Schatten an die Wände und die Decke werfen. Die Wände sind mit schwarzen Figuren dekoriert, so wenigstens habe ich es in Erinnerung. Ich werde aus dem Bett geholt, mit dem Bauch an die Wand gestellt und von hinten geröntgt. Zurück im Bett werde ich wieder im Gang parkiert und verabschiedet.
 
Das Warten im Gang ist eigenartig. Einsam. Viele Gedanken der Hilflosigkeit gehen mir durch den Kopf, langsam wird es kalt. Ich bin froh, dass der Pfleger mich zurück ins Zimmer bringt.
 
Am Fensterplatz im 8. Stock verbringe ich eine unruhige Nacht mit Licht, Lärm und Güterzügen. Ich versuche mir zurechtzulegen: Wo stehen wir mit meiner Behandlung jetzt? Was will ich am Morgen den Arzt fragen? Was passiert jetzt mit der Flüssigkeit, die gestern noch unbedingt raus musste? Meine Sinne, Gehör und Geruch, sind nicht mehr so extrem geschärft wie nach der Operation. Ich träume auch viel weniger heftig. Bin ich wohl schon so viel schwächer geworden, oder habe ich resigniert?
 
Umzug als traurige Reise
Der ganze Morgen vergeht mit Betteln: „Nehmt mir bitte die Infusion weg!“ – die Pflegefachfrau darf nicht, und die Ärzte haben sich verdünnisiert. Niemand will erreichbar sein. Ich habe den Eindruck, das Zimmer werde etwas gemieden, weil ich quengele. Gegen Mittag kommt die Meldung: „Sie werden in eine andere Abteilung verlegt.“„Was soll denn das schon wieder? Wenn ich verlegt werden möchte, dann nach Hause.“„Nein, in ein Bettenhaus mit einem Zweier-Zimmer.“
 
Ein Rollstuhl wird gebracht. Die Pflegefachfrau packt mir meine Sachen in die Tasche. „Nehmen Sie mir doch die Infusion weg, dann kann ich aufstehen und zu Fuss ins andere Haus.“„Nein, ist besser so.“
 
Dann kommen meine Frau und mein Bruder. Sie packen mich in den Rollstuhl, ich verabschiede mich von den Bettnachbarn, und wir fahren wieder einmal in den Gang vor den Lift. Es herrscht einige Aufregung. Wir können nicht einfach gehen, weil noch Papiere, alle die Medikamente und Berichte ordentlich bereitgestellt und übergeben werden müssen. Ein Assistenzarzt rauscht vorbei. Er hat die Nackenstarre: Er kann den Kopf nur noch geradeaus oder auf die andere Seite bewegen. Mich sieht er geflissentlich nicht. Ich motze: „Die lassen uns absichtlich wieder hängen.“
 
Begleitet von einer Pflegefachfrau – für die korrekte Übergabe – geht die Fahrt durch die unterirdischen, betonierten Gänge des Spitals. Ich glaube, es ist die traurigste Reise, die ich in meinem Leben gemacht habe: Im Rollstuhl, obwohl ich gehen könnte, mit einer unnötigen Infusion in der Hand, mit schweigsamen Verwandten, die mich trösten wollen und einer Pflegefachfrau, der es auch alles andere als wohl ist.
 
Die neue Unterkunft
Am neuen Ort werden wir gewohnt freundlich, fast überfreundlich, empfangen und willkommen geheissen. Alle stellen sich vor („Ich betreue Sie heute“), worauf ich sofort wieder mit der Bitte um Entfernung der Infusion beginne. Natürlich darf auch hier das Pflegepersonal nichts machen, bevor der Arzt kommt. Mir bleibt die schlechte Laune trotz hellem Zimmer erhalten. Sie lässt sich auch nicht aufheitern durch die „Gastgeberin“, die mir wiederum den Betrieb erklärt und eröffnet, dass die Benutzung des Fernsehers pro Tag zusätzlich 5 Franken kostet. Ich habe das in der allgemeinen Abteilung des Kantonsspitals Aarau schon als echt kleinlich empfunden, geschweige denn hier, in der Comfort-Abteilung.
 
Rasch stelle ich fest, was alles anders ist: Essen und Getränke werden von der Gastgeberin und nicht vom Pflegepersonal serviert. Die tägliche Spritze heisst nicht mehr „Blutverdünner“, sondern „Antithrombosespritze“. Die schematische Einnahme von 8 Panadol-Tabletten pro Tag (schmerzlindernd und fiebersenkend) wird viel genauer kontrolliert und durchgesetzt als auf der Allgemeinen Abteilung. Dafür ist das WC enger, und das Fenster lässt sich nur einen schmalen Spalt weit öffnen. Die Betreuung, das Material und das Essen sind absolut identisch, wie ich mit Genugtuung registriere. Zusätzlich ist einzig ein Dessert zur Teezeit. Es herrscht mehr Ruhe unter den Patienten (weniger Besucher), und die Ärzte zeigen sich mehr – ich empfinde es wenigstens so. Dafür sind im Gang die im Boden eingelegten Fenster nicht fugenlos verlegt. Jedes fahrbare Tablett, mit den kleinen unhandlichen Rädern, wird so geschüttelt, dass es bis in die Zimmer hörbar ist.
 
Gegen Abend denke ich: „Jetzt ist dann wohl einmal Arztvisite.“ Ich stehe auf, wasche mich und begebe mich mit dem Christbaum in den Gang. Welch ein Timing! Der stellvertretende Chefarzt eilt um die Ecke, kommt auf mich zu und sagt: „Herr Keller, von Ihnen haben wir es gerade gehabt.“ Wir begeben uns ins Zimmer, und ich zeige ihm die Infusion. Er runzelt die Stirn, fragt die Pflegefachfrau, wozu die Infusion nötig sei. Diese zuckt die Achseln. „Ich erkläre es halt ein weiteres Mal: Seit der abgebrochenen Operation gestern Abend ist die Infusion unnötig.“„Sie sind nach 20 Stunden der erste Arzt, der seither erschienen ist und der die Kompetenz hat, die Entfernung anzuordnen.“„Nehmen Sie die Infusion weg,“ lautet seine kurze Anweisung.
 
Ich danke ihm von Herzen und hänge gleich die Bitte an: „Ich möchte nach Hause.“ Seine Begeisterung für diesen Wunsch hält sich in engen Grenzen. Diplomatisch meint er: „Wenn der Chef Sie aus dem Spital entlässt, werde ich mich diesem Entscheid nicht widersetzen.“ Was ich als positiv denkender Mensch natürlich als Hoffnungsschimmer empfinde.
 
Anderer Tag, andere Töne
Wiederum folgt die Enttäuschung am nächsten Tag. Ein anderer Arzt macht Visite. Sehr zum Missfallen der Pflegefachfrau setzt er sich auf das leere Nachbarbett und beginnt zu dozieren: „Mit Ihren Blutwerten können wir 2 bis 3 Patienten im Spital behalten.“„Aber gestern habe ich von Ihrem Chef etwas ganz anderes gehört“, entgegne ich. „Nein, nein, Herr Keller. Wir haben Ihren Fall gestern gemeinsam besprochen: Sie bleiben im Spital.“„Können Sie mir sagen, warum? Und warum brauche ich immer noch diesen blöden Katheter, wenn Sie sonst ja sowieso nichts machen?“ „Herr Keller, Sie sind doch ein intelligenter Mensch. Sie haben studiert. Wissen Sie, der Katheter, das ist Physik. Mit dem Katheter läuft der Urin aus der operierten Niere immer schön ab. Wir wollen nicht, dass es eine Stauung gibt und irgendwo Urin austritt. Wissen Sie: Wollen Sie eigentlich ihre Niere verlieren. Jetzt haben Sie noch deren zwei. Sie wissen, wo ein Tumor war, kann wieder einer kommen. Wenn Sie nur noch eine Niere haben, sind Sie blöder dran.“„Herr Doktor“, insistiere ich ziemlich konsterniert, „das mit dem Tumor hat mir aber der Herr Professor ziemlich anders erklärt. Und dass Physik nicht das einzige ist, was in meinem Körper abläuft, das dürfte Ihnen ja auch klar sein. Und übrigens: Je länger ich im Spital bin, desto gefährlicher wird es anscheinend. Es sind immer die Ärzte, die einem auf einmal Angst machen.“ Wir können uns nicht vernünftig einigen, und er zieht von dannen.
 
Urlaub
Am Donnerstag kommt er wieder. Diesmal bin ich grantig, bis er auf einmal sagt: „Herr Keller, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich entlasse Sie in Urlaub. Der Katheter bleibt drin, Sie kommen am Freitagabend wieder ins Spital, bleiben bis am Samstagmorgen, damit wir unsere Untersuchungen machen können. Danach kommen Sie am Sonntagabend wieder. Am Montagmorgen machen wir Ultraschall und sehen dann weiter.“ Endlich ein vernünftiger Vorschlag. Ich mache mit. Aber wie soll ich ihnen glauben? Es hat schon so viel geändert von Tag zu Tag, dass ich den Worten nicht mehr trauen kann. Er nimmt mein Krankenblatt aus den Händen der Pflegefachfrau und schreibt vor meinen Augen Wort für Wort unserer Abmachung in leserlicher Schrift hinein. „So, nun können es alle lesen.“ Ich telefoniere meiner Frau, und sie holt mich ab.
 
Endlich wieder zu Hause, wenn auch nur zeitweise. Meine Frau massiert mir die Füsse; ich sitze an der Sonne oder schlafe im Bett. Die Zeit vergeht im Schlafe, ich halte mich an die Abmachungen, und es wird Montagmorgen – im Spital.
 
Warten
Heute Vormittag ist Ultraschall angesagt und im Dienstplan der Pflegeabteilung so eingetragen. Zeitig stehe ich auf und mache mich bereit. Man weiss nie, wann der Anruf kommt. Man muss einfach warten. Es wird Mittag, und nichts passiert. Ich nörgele wieder mit den Pflegefachfrauen herum, aber diese können nichts machen, sondern müssen auch warten. Die Ärzte bestimmen, wann was passiert, und ohne Arzt geht gar nichts. Ich bin ziemlich sauer, als um 16 Uhr der Anruf Kommt: „Herr Keller möge sich bitte im Sekretariat der Urologie melden.“ Ich mache mich auf den Weg und setze mich in einen Stuhl im Gang vor dem Sekretariat, weil dieses im Moment unbesetzt ist. Von dieser Position aus hat man alle Türen im Auge. Auf einmal kommt der Herr Doktor, mit dem ich den Urlaub vereinbart habe. Ich stehe auf, strecke ihm die Hand entgegen und brummle: „Das heute haben wir anders vereinbart. Schriftlich. Ich wäre jetzt wieder im Urlaub. Ich habe mir das anders vorgestellt.“„Ja, hatten Sie am Morgen keine Ultraschalluntersuchung?“, stellt er sich naiv. „Herr Doktor, Sie wissen ganz genau, dass ich heute Morgen nicht untersucht wurde“, worauf er sich unter Berufung auf andere Fälle verabschiedet.
 
Ich werde aufgerufen, mich in ein Untersuchungszimmer zu begeben. „Hier hat es ja gar kein Ultraschallgerät“, bemerke ich zum Pfleger, worauf dieser meint: „Es gibt keine Untersuchung. Der Chef will mit Ihnen reden.“ Ich staune, und schon kommt der Herr Professor, begrüsst mich: „Ich habe noch schnell einen Patienten, und nachher habe ich alle Zeit der Welt für Sie.“
 
„Herr Keller, die Sache gefällt mir nicht.“„Ich glaube gehört zu haben: Ich möchte Sie nochmals operieren ...“ Spontan bricht ein klares „Nein!“ aus mir heraus. „Herr Keller, die Sache ist gefährlich. Ich garantiere Ihnen, wenn Sie nichts machen, sind Sie mit jeder Garantie in 6 Wochen wieder hier. Ich wette mit Ihnen eine gute Fasche Wein“ (er weiss sogar Lage und Jahrgang). Im Hintergrund brummelt der Pfleger: „Das kommt teuer, mit dem Herrn Professor zu wetten.“ Mir ist weder ums Operieren noch ums Wetten zu Mute. Ich frage: „Gibt es ähnliche Fälle wie mich, die ohne weitere Eingriffe wieder gesund geworden sind?“ Nach kurzem Überlegen bestätigt der Professor diese Möglichkeit, aber: „Es geht sicher viel länger als wenn Sie mich machen lassen.“
 
Ich spüre seine echte Besorgnis. Trotzdem schone ich ihn nicht: „Das, Herr Professor, habe ich von Ihnen auch schon gehört. 10 bis 12 Tage Spital, keine Kur nötig, praktisch keine Infektion. Und bei mir wird es von Tag zu Tag gefährlicher. Ihre Ärzte machen einem Angst. Wie soll ich da gesund werden?“ Er resigniert: „Ich kann Sie nicht im Spital halten, wenn Sie nicht wollen.“„Das höre ich zum ersten Mal. Das sollten Sie wieder einmal dem Pflegepersonal und Ihren Untergebenen sagen. Bitte sagen Sie mir: Was ist für mich gefährlich? Sie können ruhig die gültigen Sicherheitslimiten des Spitals ausser Acht lassen. Das Risiko trage ja sowieso ich, wie die verschiedenen geleisteten Unterschriften beweisen. Gehen Sie so weit, wie Sie es mit Ihrem Gewissen gerade noch vereinbaren können?“ Er überlegt ernsthaft. „Wer pflegt Sie?“„Meine Frau. Wenn etwas ist, habe ich meinen Hausarzt und bin in einer halben Stunde im Kantonsspital Aarau.“„Also, gefährlich wird es, wenn Sie Schüttelfrost bekommen.“ Ich bedanke mich und erkläre ihm, dass ich jetzt wieder in Urlaub gehe. Er akzeptiert und lässt mich ziehen.
 
Die Stimmung zu Hause ist nicht gerade auf einem Höhepunkt. Meine Frau massiert mir ausgiebig die Füsse. Ich gehe ins Bett und schlafe tief und traumlos – ich mag mich wenigstens an keine Träume erinnern.
 
Fortsetzung folgt.
 
Hinweis auf die vorangegangenen Berichte zum Behandlungsverlauf
03.01.2007: Erlebnisse im Kantonsspital Aarau (5): Fieber und Diagnose
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