Textatelier
BLOG vom: 18.11.2006

Happy Pills: Prozac-Wunder und die unheile Kinderwelt

Autor: Emil Baschnonga, London
 
Kinder leiden mehr und mehr unter Depressionen. So beginnt ein gut fundierter kritischer Bericht in The Sunday Times vom 12. November 2006. Ärzte dürfen jetzt die Prozac-Wunderpille, auch „Happy Pill“ genannt, an 8-Jährige verschreiben.
 
Viele Kinder werden in der Schule (Prüfungen) und im eigenen Elternhaus (Streit und Scheidung) gewaltig überfordert. Letztere sind unter dem Sammelbegriff „dysfunctional family“ (nicht funktionierende Familie) vereint. Kinderpsychologen und Neuroscientists (Nervenärzte) äussern sich zu dieser Misere und finden laufend neue Ausdrücke rund ums Wort Depression, das ich persönlich lieber Seelenangst nenne.
 
Der Nachwuchs von Eltern mit höherem Einkommen sei besonders anfällig, stellt eine amerikanische Studie mit dem Titel „The Price of Privilege“ fest. Im Gegenzug wird ein Brite demnächst ein Buch mit dem schlichten Titel „Affluenza“ veröffentlichen.
 
Das klingt wie „Influenza“. Dieses Wort liefert mir den Steigbügel in dieses traurige Epistel, das sich ansteckend ausbreitet und mit Prozac (Prozak) und ähnlichen Substanzen eingedämmt werden soll, wie von der European Medicines Agencey (EMEA) und vom britischen National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) gutgeheissen und empfohlen. Das ist keineswegs „nice“ (nett), sondern lebensgefährlich! Beide Organisationen sind stark von der Pharmaindustrie beeinflusst.
 
Prozac und seine Fluoxetine-Abarten erhöhen nachweisbar das Selbstmordrisiko. Keinesfalls sollte diese Droge ohne begleitende Psychotherapie verabreicht werden. Doch dem englischen National Health Service (NHS) fehlen die Mittel dazu. Kein Gesetz hindert den Hausarzt, diese Droge selbst für Kleinkinder zu verschreiben.
 
Prozac ist keineswegs die einzige Droge. Ritalin usf. werden gegen „attention-deficit hyperactive disorder“ (ADHD, das Zappelphilipp-Syndrom) bei Kindern verschrieben. Lassen wir jetzt die Drogen beiseite – und hoffen wir, dass verantwortungsbewusste Erwachsene diese ebenfalls liegen lassen und keinem Kind verabreichen – und wenden wir uns der Kindheit zu.
*
Die heile Kinderzeit verkürzt sich drastisch. Kinder sollten sich, kaum sind sie 10 Jahre alt, wie Erwachsene benehmen … Im 17. und 18. Jahrhundert wurden Kinder mit der Knute zur Disziplin angehalten und dressiert – bis im 19. Jahrhundert der Schweizer Johann Heinrich Pestalozzi dagegen einwirkte. Auch englische Dichter wie William Blake und William Wordsworth trugen zum Gesinnungswandel bei. Am meisten jedoch hat Charles Dickens das Gewissen der Bevölkerung weit und breit aufgerüttelt.
 
Die viktorianischen Kinderbücher, schön und farbig illustriert, überbordeten und trieften voll seichter Sentimentalität: Kinder spielten mit Reifen, tanzten im Ringelkreis und sangen anmutige Kinderlieder. Das war viel zu schön, um wahr zu sein, zumal Kinder damals aus ärmlichen Verhältnissen als Lohnsklaven ausgebeutet wurden. In vielen Teilen der Welt hält solcher Frevel weiterhin an.
 
Was gehört zur heilen Kinderwelt? Zeit zum Träumen, Zeit zum Spielen, Zeit zum Lachen und sogar Zeit zum Weinen. „Heile, heile Säge (Segen); 3 Tag Räge (Regen); 3 Tag Sunneschy (Sonnenschein) – s’wird bald wieder besser sy“, trösten Eltern liebevoll auch heute noch ihre Kleinkinder in der deutschsprachigen Schweiz. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Zeit zum Arbeiten in der Schule, verbunden mit Hausaufgaben.
 
Erst mit der Pubertät, wird gesagt, kommen und reifen Depressionen. Das gehört mit zum „Grosswerden“. Diese Art von Depression ist in der Regel zeitlich befristet, bis sie wie eine Eiterpustel platzt. Nicht jeder Heranwachsende wird von ihr befallen. Das ist wohl von der Gemütsart und vom Temperament abhängig.
 
Diese Depressionen sind kaum vergleichbar den heutigen. Kinder werden zunehmend überfordert. Viel zu viel wird von ihnen erwartet. Der Stress steigert sich bis ins Unerträgliche und hält an, bis es manchmal zum Kurzschluss kommt. Ich behaupte, dass besonders feinfühlige Kinder darunter besonders leiden. Ihre Bemühungen, sich zu beweisen misslingen. Schuldgefühle suchen sie heim und stauen sich. Ihr Selbstwert zerbröckelt. Manchmal steht ihnen ein Schutzengel bei und richtet sie wieder auf.
 
Vielleicht ist auch ein Schutzengel dem englischen Poeten Samuel Taylor Coleridge beigestanden. Sam litt schon als Kind unter Melancholie, die ihn auch als Erwachsener durchs Leben begleitete. In seinem Gedicht „Dejection“ (Niedergeschlagenheit), hat er seine Depression so zur Sprache gebracht: 
A grief without a pang, a void dark and drear,
A stifled, drowsy, unimpassioned grief,
Which finds no natural outlet no relief.
 
(Ein Leid ohne Schmerz, eine Leere dunkel und dumpf,
 Ein unterdrücktes, schwärend anhaltendes Leid,
Das ausweglos keine Erleichterung findet.)
(Meine eigene Übersetzung) 
Ich bin froh, dass The Sunday Times diese Ode eingeschoben hat und mir damit die Suche in meiner Bibliothek erspart hat. Sein Gedicht hat mir erst noch aufgedeckt, dass Melancholie als milderes Ersatzwort für die schroffe, hartkantige Depression gelten kann.
 
Was wäre aus Coleridge geworden, wenn ihm Prozac verabreicht worden wäre? hinterfragt der Verfasser (John Cornwell) des Sunday-Times-Artikels. Gewiss kein Dichter! Allem in allem hat Coleridge Glück gehabt, wie so viele Künstler vor und nach ihm.
 
Viele Depressionen sind einer „Influenza“ vergleichbar und vorübergehend. Erst wenn sie akut anhalten wie ein hartnäckiger Katarrh, sollte unbedingt dem Symptom und seiner Ursache nachgespürt werden. Prozac unterdrückt das Symptom brutal, bis das Opfer drogenabhängig geworden ist und schlimmstenfalls, von Nebenwirkungen der Droge betroffen, dem Selbstmord zutreibt. Vorsichtshalber schiebe ich ein, dass sich Depressionen nicht über einen Leisten schlagen lassen. Sie manifestieren sich verschiedenartig wurzeln im Individuum. Oft kann ein berufener Ratgeber den Heilprozess einleiten.
 
„Das Unbehagen in der Kultur“, heisst ein Buch von Sigmund Freud. Und wirklich, erfahre auch ich viel von diesem Ungemach. Dagegen habe ich meine eigene Therapie entwickelt: schreiben. Dann kann ich nachher wieder das Helle und Heile in dieser Welt erkennen. Mit Prozac wird dieser und viele andere zugängliche Heilwege verbaut. Kinder müssen vor dieser „Happy Pill“ verschont bleiben.
 
Hinweis auf weitere Blogs rund ums Thema Prozac
Hinweis auf weitere Blogs von Scholz Heinz
Auf Pilzpirsch: Essbare von giftigen Pilzen erkennen
Ein bärenstarkes Museum in Gersbach
Barfuss über die Alpen
Foto-Blog: Auf geht`s zur Hohen Möhr
Foto-Blog: Vom Kleinen Rhein zum Altrhein
Fotoblog über den Schönauer Philosophenweg
Rote Bete (Rande), eines der gesündesten Gemüse
Hermann-Löns-Grab im Wacholderhain
Lüneburger Heide: Salzsau und Heidschnucken
Kutschenmuseum in Wiechs ist ein Schmuckstück
Canna verleihen einen Hauch karibisches Flair
Artenreiche Streuobstwiesen stark gefährdet
Liebe zu den Kräutern in die Wiege gelegt
Eine Hütte mit Fleischsuppe im Namen
Rätsel um die Russenbänke in Präg gelöst