Textatelier
BLOG vom: 08.06.2006

Über Mergelsträsschen, Stock und Kalkstein zur Gislifluh

Autor: Walter Hess
 
Ich sitze zu viel und musste meinen trotzdem noch gesunden Beinen wieder einmal eine Wohltat angedeihen lassen. Ich wanderte auf die Gislifluh (Gisliflue), 772 m über Meer; unser Haus steht am Jurafuss ziemlich genau auf 400 m ü. M.). Die Höhendifferenz ist also locker zu überwinden.
 
Als der eigentliche Ausgangspunkt zur Wanderung kann der Obere Dorfplatz in CH-5023 Biberstein AG (Bezirk Aarau) betrachtet werden, an dessen oberem Teil der Hohlenkeller (Hohle Keller) ist, eine Verengung in der ehemaligen Ortsverbindungsstrasse nach Auenstein. Von dort führt ein schmales, zuerst noch geteertes Strässchen hangwärts, steil hinauf. Man kann da nicht viel falsch machen, sondern strebt beinahe in der Direttissima (nordnordostwärts) den Hang hinauf, bald einmal auf angenehmen, unter den Schuhen knirschenden Mergelwegen, das Beste, was es zum Wandern gibt. Ich war allein und konnte das Tempo auf meinen Atem und den Herzschlag abstimmen, stillstehen, wenn es ein Naturwunder zu sehen oder zu hören gab – und diese werden mit zunehmender Höhe immer zahlreicher, etwa ein Schwalbenschwanz auf einer Rotkleeblüte oder ein friedfertiger Neuntöter, der kratzend etwas schwatzt, mich als „Geck“ apostrophierte, obschon ich nicht sehr modisch gekleidet war.
 
Die Wanderung führt an alten Eichen mit umfangreichen Stämmen (ist das Dickenwachstum, besonders im Alter, etwa naturgewollt?), vielen Buchen und an einem einsamen Mammutbaum im Obernberg vorbei, mit dem der ehemalige Förster Josef Buck etwas Exotik in den Waldlehrpfad bringen wollte. Er hat einen schönen, vielfältigen Wald hinterlassen, ist der Verfichtung kaum erlegen. Mehlbeere, Vogelbeere und alles, was in den Jura gehört, sind vertreten, auch eine wandernde Familie und ein Mountainbiker.
 
Man kann beim Aufstieg im Gebiet Obernberg/Burghalden entweder die befahrbaren Mergelsträsschen oder gewissermassen als Abkürzungen die gut mit gelber Farbe markierten Wanderwege benützen und dabei über blank polierte Baumwurzeln oder brüchigen, von Schuhsohlen geschliffenen Jurakalk wie über Naturtreppen steigen und kommt gelegentlich an einer Holzbeige vorbei, die geduldig auf einen Käufer wartet, oder an einer Magerwiese mit vielen Orchideen, der Bienen-Ragwurz und dem Männlichen Knabenkraut, auch Esparsetten. Im Wald begegnet man der Rapunzel und dem Immenblatt, auch der Mandelblättrigen Wolfsmilch, aber leider keinem Wolf.
 
Wenn man glaubt, nach einem Landwirtschaftsacker mit Blumeneinfassung (Ackerrandstreifen) in einer Waldlichtung (Helgli) den höchsten Punkt erreicht zu haben, ist man erst auf dem Gatter (Kaltenbrunnen, 643 m ü. M.) angelangt, einer Waldstrassenkreuzung auf der Jurakrete, von wo die relativ breite Naturstrasse nach Thalheim ins Schenkenbergertal hinunter führt. Dort oben steht ein komplexer Wanderwegweiser, der unter anderem nach Osten zeigt: Gisliflue 20 Min.
 
Von hier weg gibt es dann nur noch eine schwach beeinträchtigte Natur, fast zugewachsene Weglein mit Spuren von Mountainbike-Pneus, und dazwischen wird endlich ein Blick zum Gislifluhfelsen, unserem Bibersteiner Hausberg, gewährt, der sich zwischen dichtem Strauch- und Baumwuchs (Buchen) zu verstecken scheint und niemals bedrohlich wirkt. Die letzte Wegstrecke ist die steilste, führt über Stock und Stein, bietet aber auch für Flachlandbewohner keine Probleme, und irgendwelche Kletterhilfen braucht man nicht. Hier ist die Vegetation besonders üppig; die Hasenöhrli bilden ganze Teppiche. Zwischen herrlichen Blumenbouquets und über ein wirres Wurzelgeflecht ist man bald oben beim beinahe pyramidenförmigen Triangulationspunkt Gisliflue, der auf einer Betonplatte fest verankert ist und neben dem eine bronzene Tafel das Panorama bis zu Eiger, Mönch, Jungfrau und Finsteraarhorn und bis zum Bachtel im Zürcher Oberland (bei Wald) erklärt. Gegen Norden und Westen gibt es einen herrlichen Ausblick auf die serienmässig aufgereihten Jurabuckel beziehungsweise ins Schenkenbergertal mit der bekannten Ruine Schenkenberg. Gegen Norden fällt die Gisliflue-Wand senkrecht ab. 2 jüngere Damen erklären einander die nähere Umgebung, das Schloss Lenzburg, den Staufberg mit dem Kirchlein und dahinter den Hallwilersee, aber auch den Siedlungs- und Industriebrei des Aaretals weit über Aarau hinaus. Es war leicht dunstig, wie oft, aber die Rundsicht dennoch gewaltig.
 
Eine Sicht wie aus einem stillstehenden Flugzeug. Und ein kreisender Privatflieger, wahrscheinlich im Birrfeld gestartet, kreiste über dem Jura, und ich empfand den Fluglärm hier oben als besonders störend. Und dann kam ein sportlicher Wanderer schnellen Schrittes an. Kaum hatte er sein Plastikrucksäckchen neben sich platziert, ertönte aus dessen Innerem eine Melodie. Der Mann packte sein Handy aus und begann ein Geschwafel in englischer Sprache. Mehrmals sagte er in abstoppendem Ton „Okay“, aber sein Gesprächspartner liess nicht locker; was man über Frauen und den Job („I do my job“) sagen konnte, wurde ausgebreitet. „Oookayyy“. Und das Geschnatter über Belanglosigkeiten ging dennoch weiter. Der Gesprächspartner blieb hart dran. Das war der Gipfel. Nach einer halben Stunde hatte ich definitiv genug und machte mich auf den Heimweg – das Telefonat war noch nicht beendet. Kurz vor dem Gatter überholte mich der Telefonist schnellen Schrittes und sagte freundlich: „Uf Wiederluege“ (Auf Wiedersehen). Ja, Sprachen muss man können – und oft genug wäre es angenehmer, wenn sie nicht benützt würden.
 
Die Sonne ging dort langsam unter, wo sich der Jura in sanftem Bogen dem Welschland zuneigt. Es wurde etwas kühler, und ich krönte den Abstieg mit einer kleinen Brasil von Dannemann. Sollte man nicht eher die Handys als das Rauchen verbieten? Daheim hatte meine Frau eine duftende Rhabarberwähe mit goldenem Guss parat. Darob vergass ich die ganz leichte Muskelanspannung in den Beinen.
 
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