Textatelier
BLOG vom: 20.05.2006

Warum ich trotz alledem keinen Hooligans-Fanclub gründe

Autor: Walter Hess
 
Lieber Luz Pfosi in Wallisellen,
 
Du hast mich soeben per E-Mail angefragt, ob der „Skandal von Basel“ auch ein Thema für das Blogatelier sei. Ja, schon, aber im Prinzip fühle ich mich überhaupt nicht kompetent, darüber zu schreiben, da ich noch nie einem Fussballmatch beigewohnt habe und dies auch in Zukunft nicht zu tun gedenke. Die einzige Ausnahme war das Aufgebot zur Teilnahme an einem soldatischen Fussballmatch zur Publikumsbildung und Anfeuerung im Gehege der Grenadierschulen in Losone TI. Da mir dessen Ausgang aber vollkommen einerlei war, schlief ich während des Spiels ein, nachdem wir gerade einen Stosstrupp im Maggiatal hinter uns gebracht hatten. Ich hatte während eines gestreckten Galopps über Stock und Stein einen etwa 40 kg schweren Flammenwerfer auf dem Buckel, dann stinkendes Rohöl verspritzt und in Brand gesetzt und gewann dabei das Gefühl, das reiche für den Moment. Meine vaterländische Pflicht schien mir erfüllt zu sein.
 
Die Institution der Hooligans war mir damals, Mitte der 50er-Jahre, unbekannt. Zum Randalieren hatten wir offiziell hinlänglich Möglichkeiten genug; die ganze Grenadier-Ausbildung und die nachfolgende Unteroffiziersschule waren im Prinzip ein einziges Rowdytum, und die 38 Wochen plus spätere ähnliche Wiederholungskurse reichten mir dann fürs Leben. Die meisten Kameraden aber übten sich nach Kampfbahn-Quälereien und Salti mortali in steile Kiesgruben während der Pausen in Losone noch im Hosenlupf, einer Art Freistilringen. Seither weiss ich, dass der Bewegungsdrang und die Lust auf kämpferische Einsätze gerade bei jungen Menschen oft kaum Grenzen kennt. Und wenn ich die kriegerischen Geschehnisse auf der weltpolitischen Bühne betrachte, werde ich das Gefühl nicht los, dass diese Kampfeslust nicht nur bei Jungen, sondern im grossen Stil auch bei gestörten Alten vorhanden ist. Nur dass diese Feiglinge ihre Kämpfe aus Distanz führen beziehungsweise führen lassen.
 
Es gibt einerseits die aktive Freude am Kampf nach amerikanischem und britischem Muster – beide sind ausgesprochene Kriegsnationen. Und dann gibt es noch die passive Teilnahme an Schaukämpfen wie etwa beim Betrachten von Hollywoodfilmen mit ihren dümmlichen Storys, die nebenher der Gewaltverherrlichung dienen. Auch die Videospiele (Computerspiele), von denen viele einen ausgesprochen gewalttätigen Inhalt (aus lauter Kampf- oder Kriegsszenen) haben und die pubertierende Junge und Alte emotional verrohen und motivieren können, verleiten dazu, Gewalt auch ausserhalb virtueller Räume anzuwenden. Jedenfalls hört man überall von einer Zunahme der Gewaltbereitschaft und Tragödien an Schulen, und man tut so, als wisse man nicht, woher solche Zeiterscheinungen kommen könnten. Man will ja keine Geschäfte stören. Viele Videospiele machen den Spieler zum Kriegsherrn, der mit taktischem Geschick die Feinde vernichten muss, allenfalls im Einzelabschuss. Und gerade intellektuell unterbemittelte Präsidenten, die ausserhalb der Gesetze agieren, möchten ihr entsprechendes Wissen gern in die Praxis umsetzen, auch wenn dabei ganze Länder zerstört werden (Vietnam, Afghanistan, Irak). Solche Kollateralschäden werden denn auch akzeptiert.
 
Aufgrund derartiger Erfahrungen ist bemerkenswert, dass gegen die Verbreitung von Gewalt viel weniger als gegen das Zigarettenrauchen getan wird. Gewaltdarstellungen sind kein Thema und legal – aber wehe, wenn sich einer eine Zigarette anzündet! Und wahrscheinlich gehöre ich als gelegentlicher Pfeifenraucher demnächst auch zu den Kriminellen, aber wer die Gehirne der Mitmenschen mit Gewaltdarstellungen und -verherrlichungen schädigt, kommt ungeschoren davon. Jedermann mag selber beurteilen, was da mehr zum Himmel stinkt.
 
Zu einer Art Kampf der Nationen sind die Fussballspiele und andere aggressive Kampfsportarten geworden. Dabei wird die Kriegssprache angewandt. Ich hole einige Ausdrücke aus dem heutigen Sportteil der „Mittelland-Zeitung“ (MZ, 20. Mai 2006) heraus, rein zufällig, denn deren Sprache bewegt sich innerhalb des sportlich Üblichen: „Attacke in der 2. Runde; Präzision und Kampfgeist; Duell gegen Venus Williams; nach ihrem Sieg gegen (...) schlug sie ...; Marcinkevicius, der Vorkämpfer par exzellence; so kämpften sich die Suhrer zu einem klaren Sieg; Markus Hüsser war mit 8 Treffern der beste Schütze.“ Die verbal lustvoll drauflos knallenden Medien veranstalten rund um den Sport ein unglaubliches Geschrei, vor allem dort, wo viel Geld im Spiele ist. Der Schweizer Nationalsport Schwingen, bei dem der faire Verlierer dem Sieger versöhnlich das Sägemehl vom Rücken putzt, ist weder in Bezug auf Finanzen und Kampfgeist interessant.
 
Dieses zunehmende, vollkommen überrissene Getue verleiht den Kampfsportarten, die auf Kommerz ausgerichtet sind, eine unwahrscheinliche Bedeutung, so dass sich um sie herum ganze Fan-Klubs bilden, welche ihre Mannschaft tatkräftig unterstützen, ihr nachreisen und Fähnchen schwenkend und mit Kuhglockengebimmel und skandierend unterstützen. Und wehe den Gegnern, die ihr den Meister zeigen!
 
Vor allem vor entscheidenden (Welt-)Meisterschaften heizen die Medien die Kampfesstimmung während Wochen an. Und labile Naturen sind am Tage der Entscheidung davon dann emotional dermassen aufgewühlt, dass sie ihre Gefühle und sich nicht mehr im Griff haben, sie aus den Fan-Ställen wie der Muttenzer Kurve ausbrechen und es dann eben zu den bekannten wüsten Szenen kommt. Ich weiss nicht, ob die ehrenwerten Zuschauer auf der Fussballtribüne Gewaltakte, die sich neben dem anerkannten Krieg auf dem Rasen zusätzlich fürs gleiche Geld einstellen, geniessen, genau wie es ja Menschen gibt, für die der Autorennsport seine Faszination verlieren würde, wenn es nicht gelegentlich krachte. Das bleibe dahingestellt. Aber etwas Action sollte schon sein.
 
Offenbar gehört Gewalt zum Fussball, zumal die Zeitschrift „Facts“ in Ausgabe 2006-20 neben dem Dauer-Relaunchen noch dazu kam, was folgt zu schreiben: „Im Gegensatz zu den Profis spielt sich die Gewalt im Breitenfussball vor allem auf dem Platz ab.“ Zur Untermauerung werden u. a. Faustschläge gegen Schiedsrichter aufgelistet. „Vor allen in der 3., 4., 5. Liga und bei den B-Junioren (16-/17-Jährige) stellen Fussballfunktionäre eine zunehmende Gewaltbereitschaft fest.“ Es gehe weniger um das Spielerische als um Existenzkämpfe, wird Hansruedi Rohr, der Präsident des Aargauischen Fussballverbands, zitiert. Und, wie man beifügen möchte: Bei den Profis sorgen die Hooligans für die offenbar unerlässliche Gewalt. Jedenfalls sind die Mechanismen inzwischen wohlbekannt, und es ist ja niemand verpflichtet, sich in den Petarden- und Tränengasnebel eines Stadions zu begeben. Ich persönlich, der ich auch keinen besonderen Gefallen an Stinkluft finde, lese schon lieber ein Buch.
 
Und damit wären wir also bei den Hooligans (Rowdys) angelangt. Es gehört nach der so genannten „Schande von Basel“ (dem Schweizer Meisterschaftsspiel FC Basel – FC Zürich, das am 13. Mai 2006 im Basler Hochleistungsstadion im letzten Moment zugunsten der Zürcher entschieden wurde, was zu enormen Krawallen führte) zum guten Ton, die Erfassung und den Ausschluss von Hooligans (nicht zu verwechseln mit heiligen Gänsen) von den Stadions zu fordern. Hier muss nach dem bisherigen Erkenntnisstand der Hebel angesetzt beziehungsweise der Kampf aufgenommen werden, um bei der Terminologie zu bleiben.
 
Nach der kollektiven öffentlichen Aburteilung der Hooligans habe ich krampfhaft versucht, eigene Argumente aufzutreiben, die der guten Abwechslung halber für die munteren Hooligans sprechen.
Punkt 1: Sie verstärken die Kriegsstimmung auf den Kampfschauplätzen und zwingen dadurch dazu, den Sinn der ausufernden Kampfsportarten zu hinterfragen. Das scheint mir sehr nützlich zu sein (obschon dieses Hinterfragen bisher ausgeblieben ist).
Punkt 2: Sie thematisieren die Gewalt vor versammeltem und auserwähltem Publikum, das sich für Kampfspiele erwärmen kann, und zwingen dieses dadurch dazu, sich Gedanken über die Ursachen der Gewaltbereitschaft zu machen. Auch das scheint mir sehr nützlich zu sein (obschon solche Gedanken bisher ausgeblieben ist).
Punkt 3: Die Hooligans decken die zwiespältige Rolle der Medien auf, welche die Stimmung im Voraus masslos anheizen und, wenn sich die Folgen davon eingestellt haben, den Spiess umdrehen. Dieses Aufdecken scheint mir sehr nützlich zu ein (obschon die kritischen Fähigkeiten der modernen Menschen im Abnehmen begriffen sind und die Medien keinen Anlass sehen, ihr Sportgetue auf ein vernünftiges Ausmass zurückzufahren).
 Punkt 4: Was in und um Fussballarenen geschehe, sei ein Spiegelbild der Gesellschaft, heisst es. Ich teile diese Ansicht. Und manchmal ist es nützlich, das Spiegelbild etwas zu verdichten, damit der Effekt genügend aufrüttelt. Auch diesbezüglich haben die Hooligans eine ausgesprochene Begabung. Dafür danke ich ihnen.
 
Meine verehrten Nutzerinnen und Nutzer mögen mich trotz alledem bitte nicht auffordern, einen Hooligans-Fanklub zu gründen. Denn mein Talent zum Fan war meiner Lebtag unterentwickelt – genau wie meine Fähigkeit, dem Kampf- und Spitzensport einen Sinn abzugewinnen. Und ich leide nicht einmal darunter.
*
Ich hoffe, lieber Luz, Du kannst mich verstehen, wenn ich das Schreiben über den Sport lieber lasse. Denn immer, wenn ich über diese unwichtigste Nebensache der Welt nachdenke, komme ich zu merkwürdigen Resultaten. Wahrscheinlich liegts ausschliesslich an mir.
 
Ich wünsche Dir ein unsportliches und damit friedliches Wochenende.
 
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