Textatelier
BLOG vom: 20.11.2005

1,68 Kilogramm Bibersteiner Ortsgeschichte liegen vor

Autor: Walter Hess
 
Wenn Biberstein am Aargauer Jurasüdfuss als ehemaliger bernischer Landvogteisitz bisher noch unter irgendwelchen Minderwertigkeitsgefühlen gelitten haben sollte, seit Freitagabend, 18. November 2005, wäre das definitiv vorbei. Denn seither liegt die „Geschichte des Dorfes Biberstein von den Anfängen bis heute“ (Untertitel) in Buchform (DIN A4) vor – das stolze Werk „Biberstein“ (Haupttitel) ist stattliche 1,68 kg schwer; die Zahl ist bitte nicht zu verwechseln mit der ISBN-Nummer 3-9522927-1-0, die nichts mit dem Gewicht zu tun hat.
 
„Let’s Take It Easy“ („Nehmen wirs leicht“), vom Bibersteiner Posaunenquartett „Trombajazzo“ turnhallefüllend hingeschmettert, trug an der Vernissage immerhin etwas zur Gewichtsreduktion bei. Urs Wilhelm kommentierte die Musikeinlagen geistreich und witzig. Die musikalischen Burloni (Spassvögel) waren Feuer und Flamme für ihre Töne, hatten vor allem Stücke aus den Jahren ausgewählt, als das Schloss brannte, was im Verlaufe der Zeit 3 Mal vorgekommen ist (1587, 1784 und 1984), rund alle 200 Jahre einmal.
 
„Man sollte über Bücher nicht zu viel sagen, man sollte sie lesen“, sagte der Autor der Ortsgeschichte, der hünenhafte und leidenschaftliche Historiker Markus Widmer-Dean aus Menziken AG, der sich bemerkenswert tief in die Bibersteiner Volksseele hineingewühlt hatte, vor der Buchenthüllung. Den Umschlag ziert ein Ausschnitt aus einem Stich von Jakob Aschmann (1747–1809), als die noch mäandrierende Aare Dorf und Schloss beinahe zu berühren schien. Am gestrigen Samstag war es in Biberstein trotz der herrlich leuchtenden Herbstsonne denn auch auffallend ruhig. Strässchen, Gärten und Felder waren verwaist. Die Leute lasen pflichtbewusst über Urgeschichte, Mittelalter, Berner Zeit bis zur Neuzeit.
 
Die Bibersteiner sind heute ein bescheidenes, rechtschaffenes Völklein aus rund 1118 Einzelseelen, die an bevorzugter Lage mit der Sonne im Süden und dem Jura im Rücken das Dasein bei bester Aussicht übers Aaretal bis zu den Alpen geniessen dürfen, wenn nicht gerade ein wunderbarer Nebel die Landschaft auf seine Weise verzaubert. Sie haben es – wie der fallende Gemeindesteuerfuss lehrt – neuerdings zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Das war nicht immer so. Der Historiker Widmer erinnerte an die Zeiten im 17. und 18. Jahrhundert, als viele Bibersteiner aus purer Not in fremde Kriegsdienste (etwa für Frankreich oder Belgien) gezogen waren beziehungsweise ziehen mussten. Beim Aufkommen der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert fanden viele Eingeborene dann in Industriebetrieben in Aarau und Schönenwerd (Bally) eine harmlosere Arbeit. Sie wurden mit einem „Chacheliwagen“ (Fernküche auf Rädern mit aufeinander geschichteten Einzelbehältern für die verschiedenen Gerichte) von ihren liebenswerten und tüchtigen Hausfrauen am häuslichen Herd liebevoll und individuell durchgefüttert. Noch 1920 waren 65 % der Bevölkerung in der Sozialdemokratischen Partei organisiert, was auf die damalige Bevölkerungsstruktur schliessen lässt. In der jüngsten Zeit entwickelte sich Biberstein zu einem begehrten Wohnort, und das Parteienspektrum verbreiterte sich.
 
Und diese Gemeinde feierte im ablaufenden Jahr ihr 725-Jahre-Jubiläum, was ich die übrige vernetzte Welt via Internet schon mehrfach wissen liess. Es geht schliesslich um Verhältnismässigkeiten. Gemeindeammann Peter Frei, ebenfalls grossgewachsen, aber körpergewichtsmässig durchaus noch entwicklungsfähig, kam dieses Jahr kaum noch aus dem Jubilieren heraus. Er tritt bei aller Volksnähe immer distinguiert auf und ist darauf bedacht, Zusammengehörigkeitsgefühle zu schüren. Er findet bei jedem Anlass die richtigen Worte. Die Ortsgeschichte bezeichnete er an der Vernissage als einen „Beitrag daran, dass wir hier daheim sind“. Sie sei ein wesentlicher Teil der „kollektiven Erinnerung“. Trotz aller Bescheidenheit wies er auf die geschlossene Struktur des Dorfkerns hin, die sich in jener Zeit herausbildete, als Biberstein um ein Haar zu einer Stadt geworden wäre (zwischen 1316 und 1318 – und zwar wegen Graf Johann I.). Doch die erfreulich schlechte Verkehrslage, die sich Biberstein bis heute erhalten konnte, verhinderte das.
 
Selbstverständlich formulierte Peter Frei das mit der Verkehrslage nicht so – es war mein eigenes Temperament, das mit mir bei dieser Berichterstattung durchgebrochen ist. Wobei ich damit nicht sagen möchte, dass der sympathische, kürzlich wiedergewählte Gemeindeammann mit mir vollkommen uneinig sei; denn er hat seinerzeit immerhin einen heroischen Kampf gegen den Staffeleggzubringer geführt und leider verloren. Diese Umfahrungsstrasse für Aarau und Küttigen (Nachbargemeinde von Biberstein) ist gerade im Bau und rotiert gefährlich nahe ans Bibersteiner Wissenbach-Quartier heran. Auch ein Anschluss an unsere Ortsverbindungsstrasse mit Kantonsstrassen-Rang ist dort in der Nähe vorgesehen. Asphalt mit allem, was sich darauf bewegt und die Landluft mit Abgasen, Feinstäuben und unerwünschten Tönen belastet, scheint so etwas wie ein modernes Naturereignis zu sein, nach wie vor.
 
Der Bibersteiner Jubel im Jubiläumsjahr galt jedenfalls nicht diesen Ausscheidungen der mobilisierten Gesellschaft. In dieser Gemeinde gibt man das Geld, das sich in der Gemeindekasse anhäuft, lieber für eine Dorfgeschichte aus. Es ging um 77 000 CHF, inkl. Druck und steuerpflichtige Honorare mit symbolischem Charakter für die Begleitkommission unter der Leitung von Gemeinderat und Buchbinderei-Fachmann René Bircher, der ich von wegen „sprachlich-typografischer Beratung“ angehören durfte, wie es in Markus Widmers Begleittext heisst – ich hatte nicht viel beizutragen, kann immerhin als Insider berichten. In kulturellen Belangen ist das Geld besser investiert als in verkehrsfördernden. Denn die Geschichte dient der Gegenwart und vor allem der Zukunft. Da geht es ums Bewahren, nicht ums Zerstören.
 
Zur Illustration des Buchs war der talentierte Kölliker Fotograf Ruedi Hunziker beigezogen worden, der den Vernissageabend mit einer mündlich vertonten Dia-Bildschau humorvoll bereicherte. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, die Gemeinde, sozusagen (man beachte diese Einschränkung) aussen an einem Helikopter hängend, selbst zur Winterszeit zu überfliegen und aus der Vogelperspektive zu fotografieren; er habe dabei „schön an den Ranzen gefroren“, fügte er bei, eine einheimische Redensart, welche die Auswirkungen grosser Kälte auf die Bauchgegend kraftvoll umschreibt. Aber für Biberstein liess er, der Ruedi, sich immer wieder erwärmen, da er unsere Gemeinde seit langem auch aus der Sicht der Bodenbrüter kennt und darin viele Anklänge an Tessiner Idyllen findet, gerade auch im Dorfkern mit den terrassierten Gärten und der „Rebstube“ mit ihrer Pergola, die von Reben überwachsen ist.
 
Und wenn wir schon bei den Reben und deren Folgeprodukten sind: Bei solchen Gelegenheiten spendiert die Gemeindebehörde jeweils grosszügig Wein, und auch an Butterzopf und rustikalem Brot besteht jeweils keinerlei Mangel, wie häufig, wenn die Gemeindebehörde ihre Schäfchen zusammentrommelt. Selbst an der Wintergemeindeversammlung ist dieser schöne Brauch jeweils anzutreffen. Man prostet sich nach dem Marathon des Ja-Sagens zu und fühlt sich gut aufgehoben, ich auch.
 
So ist es eben Brauch: Wenn immer Bibersteinerinnen und Bibersteiner in Rudeln auftreten, ist ein Buffet mit meterlangen Butterzöpfen und etwas zum Herunterspülen nicht weit. Die Stimmbürger nehmen den Weg zum Schulhaus selbst zum schon fast zum rituellen Senken des Steuerfusses unter die Füsse, im vollen Bewusstsein, dass ohnehin kaum jemand etwas dagegen einzuwenden hat. Traditionen soll man pflegen und fortsetzen. Auch wenn es zu Steuerfüssen unter 100 % kommen sollte.
 
Würde nicht auf Gemeindekosten soviel Zopf gegessen, der Gemeindesteuerfuss könnte nach meinen eigenen Schätzungen um weitere 0,12 % gesenkt werden. Doch da niemand vorhanden ist, der die Sache mit der Bewirtung der Einheimischen als alten Zopf betrachtet, erlebt dieses Ritual hoffentlich noch manche Neuauflage, wie die Dorfgeschichte auch.
 
Sie kann übrigens auf der Gemeindekanzlei zum Spottpreis von 49 CHF bezogen werden (Kilopreis inkl. Mehrwertsteuer: 29.16 CHF). Der Gehirnschmalz, den Markus Widmer-Dean und wir Gehilfen während rund 2 Jahren eingebracht haben, lässt sich eben nicht in Kilo oder Tonnen messen. Sonst würden die Büchergestelle zusammenbrechen.
 
Für Butterzöpfe ihrerseits sind die sponsorierende Bäckerei Thomas Steiner in Küttigen oder das örtliche Schlosslädeli zuständig.
 
Hinweis auf weiter Blogs zur Bibersteiner Ortsgeschichte
22. 06. 2005: „Biberst-einst und jetzt: Relikte, Kuriositäten und Rätselformen“
10. 02. 2005: „Wenn die Gegenwart in Zukunft Vergangenheit sein wird“
Hinweis auf weitere Blogs von Lang Günther
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