Textatelier
BLOG vom: 31.10.2005

Die Gletschermilch und das Verhältnis zum Schutzengel

Autor: Emil Baschnonga

Der Schutzengel ist nicht greifbar. Das Verhältnis mit ihm bleibt platonisch. So habe ich es mir zurechtgedacht. „Bist du aber skeptisch“, meinte meiner, als er mir im Halbschlaf erschien. „Habe ich dir nicht heil zur Welt verholfen? Dir Hals- und Beinbruch erspart ...? Immer wieder bin ich dir beigesprungen“, ergänzte der Engel seine Aufzählung.

 „Das schon“, gab ich kleinmütig zu, „aber ...“, ich stockte, als ich bemerkte, dass er mir entflogen war. Jeder Schutzengel hat die Flügel voll zu tun. Um diese Zeit musste er nachschauen, ob Joseph Stieglitz rechtzeitig erwacht war, und nicht wieder eingeschlafen ist, jetzt da er eine Stunde mehr Schlaf gewonnen hatte, wegen der Umstellung auf die Winterzeit.

*

Der Wecker rasselte genau um 3 Uhr morgens. Joseph Stieglitz erhob sich und zog die Uniform an. Eine halbe Stunde später übernahm er die zweite Schicht als Nachtwächter in einem nahen Bürohochhaus. Sein Kollege von der ersten Schicht gähnte. Wie immer hatte er sich arg auf seinem einsamen Posten gelangweilt.

 Joseph mochte die letzten stillen Nachtstunden. Wie gewohnt holte er einen Band des „Grossen Brockhaus“ aus der Schublade. Das war seine heile Welt, zu der weder seine zanksüchtige Frau Zugang hatte noch seine halbwüchsige Stieftochter mit ihrer dröhnenden Lautsprechermusik. Viel Wissenswertes hatte sich in seinem Kopf angesammelt. Dieses Wissen lag dort gestapelt wie eine riesige Scheiterbeige. Ihm fehlte bloss der Ofen, um es zu verfeuern.

*

„Gletschermilch“, las Joseph und murmelte sinnend, „das wusste ich nicht“. Immer wenn er etwas Neues in seinem Gedächtnis speicherte, nahm er die Brille ab und wiederholte es mehrmals, also: „Wasser der Gletscherbäche." In diesem Augenblick schwirrte sein Schutzengel, von dem er keine Ahnung hatte, nochmals beim grossen Fenster im Parterre vorbei.

 Auf dem Fluss, der nahe beim Gebäude eingedämmt floss, lagerte eine milchige Nebelbank. Der Tag war angebrochen. Die Fussgängerbrücke blieb unsichtbar, vom Nebel verschlungen. Zum ersten Mal verband Joseph Stieglitz das Wort „Gletschermilch“ mit seiner nächsten Umwelt und lächelte beglückt – und sein Schutzengel auch.

*

Ich habe es ähnlich wie Joseph Stieglitz mit dem „Duden“ gehalten, um meinen Wortschatz zu erweitern. Im Gegensatz zu ihm verfeuerte ich mein Brennholz. Ein grosser Aschehaufen war daraus geworden. Ich bedaure nachträglich, dass ich voreilig einen Stapel von Manuskripten ins Gartenfeuer geworfen hatte, am 28. Oktober, dem Erntedankfest (Halloween). Eben dies wollte ich meinem Schutzengel vorwerfen, als er mir entflog. „Warum hast du mich dabei nicht aufgehalten?“

*

In Joseph Stieglitz habe ich mich wieder gefunden, eben als er seine Beobachtung notierte. Ich ging über die unsichtbare Brücke. War das schön auf der anderen Seite beim Festplatz! „Komm, Joseph, ich will dir etwas zeigen“, wandte ich mich nach ihm um. Ich betrat den Riesensaal eines kitschig eingerichteten Kinos aus der edwardschen Zeit, angelockt von den farbig blinzelnden Glühbirnen, als aus der Luke unter der Leinwand gerade eine altmodische Wurlitzerorgel entstieg und aufbrauste, von Joseph Stieglitz gespielt. Von der Kuppel schaute ein mächtiger, grellbunter Engel, der Schutzengel mit weit gebreiteten Flügeln in die Tiefe. Die Orgel setzte aus, und der Film begann: Ein alter Schwarz-Weiss-Schinken mit viel Melodramatik. Das behagte mir nicht. Ich stupste Joseph: „Komm, wir gehen weiter.“

*

Gleich neben dem Kino drehte sich ein Riesenkarussell. Prachtvoll vergoldete Traumkutschen wurden von auf und ab wogenden Pferdegespannen gezogen. Eine hübsche, anmutige Gestalt winkte mir aus der Kutsche zu. „Komm, spring auf!“, forderte mich ihre glockenhelle Stimme auf. Kaum sass ich neben ihr, schmiegte sie sich an mich. „Weisst du, wer ich bin?“

*

Leiblich und fürwahr erkannte ich in ihr meinen Schutzengel wieder. „Aber“, nahm ich meine unterbrochene Frage auf, „warum hast du ...?“ Der Engel legte beschwichtigend den Zeigefinger über meinen Mund. „Erinnerst du dich noch, wie du in deinem vom Wein vernebelten Liebeskummer in den Gletschersee gesprungen bist? Wären Emma* nicht rechtzeitig erschienen und der ruppige Bergführer aus Graubünden ... Ich habe deine Schublade mit den Manuskripten verriegelt und den Schlüssel weggeworfen. Du hast bloss einen Stapel Zeitungen verbrannt.“ Da umarmte ich meinen Schutzengel wahnsinnig erleichtert. „Aber du darfst Joseph Stieglitz nicht vergessen“, ermahnte mich der Engel. „Er ist jetzt auf dem Heimweg. Schliesslich habe ich dich jetzt zu seinem Schutzengel gemacht.“

Fussnote
* Emma ist die Hauptfigur einer gleichnamigen Novelle von Emil Baschnonga.
 
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