Textatelier
BLOG vom: 17.08.2005

Im Zug-Fahrpreis inbegriffen: Kontakte und Geschichten

Autorin: Rita Lorenzetti

Der Zug fährt los. Die alte Maria winkt. Sie hat mich auf den Bahnhof begleitet. Sie freute sich, dass ich sie besuchte und ihr zuhörte, wie ihr Leben war und ist. Sie zeigte mir Orte, wo Primos Vorfahren lebten und erzählte spannende Geschichten.

Nun bin ich wieder allein, freue mich auf die Heimfahrt. Eisenbahnfahrten sind für mich Erholung und eine Form von Meditation. Nur auf die Landschaft schauen, wie sie vorbeizieht, und wissen, dass sie doch stillsteht, tut mir gut. Ihren Formen und Linien folgen, einzelne Bäume bewundern, die Farben und Lichteinfälle aufnehmen, das ist Glück für mich.

Im Nu sind wir in Sargans. Es steigen etliche Leute zu. Zu mir setzt sich ein klein gewachsener, älterer Mann und grüsst freundlich. Seine wachen Augen signalisieren Kontaktfreude und Offenheit. Ich spüre, dass er mit mir plaudern will. „Oh nein!“, denke ich. Ich möchte auch den Rest der Heimfahrt mit der Landschaft und ihren Bergen allein geniessen, meine Ruhe haben.

Der Mann achtet nicht auf meine zurückgezogene Haltung, gibt nicht auf, auch wenn ich seine Fragen äusserst knapp beantworte. Aber bald einmal bewundern wir zusammen das, was die Fahrt uns bietet. Wir freuen uns an Gleichem. Der Mann, der von einer Wanderung heimkehrt, erzählt dann, wie es ihm heute ergangen ist, wie das Wetter war, wie sich die Wege präsentierten und wie er Kraft bekomme, wenn er wandere. Als der heutige Tag beschrieben war, blätterte er in seinen Erinnerungen weiter zurück und berichtete von einer lange zurückliegenden, gefährlichen Passüberquerung, wo er den Weg verloren hatte und auf einer Geröllhalde abstürzte. Unten sei er überraschend von einem unbekannten Mann aufgefangen worden. Dieser habe ihm auf die Beine geholfen und den weiteren Weg gezeigt. Glücklicherweise blieb er unverletzt. Ehe er recht zu sich gekommen sei, war der Retter verschwunden.

Jetzt wird es still in unserem Abteil. Der Gesichtsausdruck des Erzählers erscheint plötzlich seltsam verklärt. Die Erinnerungen berühren ihn offensichtlich stark. Er frage sich immer noch, wer ihm geholfen habe. Dann sagte er: „Da gehst du 50 Jahre deiner Wege, meinst alles aus dir selbst heraus zu können und die Ziele allein zu finden – und dann das! Das macht bescheiden.“

Nun ist der Redefluss versickert. Erst kurz vor Zürich höre ich noch, dass er mit seinem behinderten Sohn im gleichen Haushalt lebe. Eine grosse Aufgabe für ihn, die ihn immer wieder an Grenzen führe. Darum schätze er Ausflüge und Wanderungen und die sich ergebenden Kontakte. Daraus schöpfe er die nötige Zuversicht.

Als wir uns verabschieden, weiss ich, dass ich nun jedes Mal, wenn ich mit dem Zug zwischen Sargans und Zürich unterwegs bin, an ihn denke.

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