Die gelbe Rose
Gerade als wir am Grab standen, setzte der Regen ein. Sein Rauschen vermischte sich mit dem Rauschen der sich öffnenden Regenschirme. Hier, vom Friedhof aus, sah man auf das Dorf hinunter. Eine idyllische Aussicht, von viel Grün eingerahmt. Ich hatte Mühe, den Worten des Pfarrers zu folgen. "Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes..." - "Mäh-äh-äh", sekundierte ein Schaft, das auf der an den Friedhof angrenzenden Wiese genussvoll graste, "mäh-äh-äh, was geht mich euer Vater, Sohn und heiliger Geist an, mir genügt diese nasse, saftige Wiese, mäh-äh-äh..."
Aber der Pfarrer liess sich nicht beirren. Seine Lippen, komfortabel in den gepflegten schwarzen Bart eingebettet, formten Worte über Worte. Ich habe sie alle vergessen. Der Regen tröpfelte auf meine Kapuze, die ich statt eines Schirms über den Kopf gezogen hatte. Der Sigrist, der auf der andern Seite des Grabes stand, machte sein Beerdigungsgesicht voller Trauerfurchen und starrte auf die Blumenkränze. Ich blickte hinüber zu meiner Kusine Sylvia, der Tochter der Verstorbenen. Sie trug ein elegantes graues Deux-pièces und verführerische schwarze Strümpfe mit verführerischen hochhackigen Pumps an den wohlgeformten Beinen ganz die Tochter ihrer Mutter, die auf ihre weibliche Attraktivität auch immer grossen Wert gelegt hatte.
Der Regen liess etwas nach, und die Tochter meiner Kusine verteilte Rosen an die leicht verlegen herumstehenden Trauergäste. Ich machte einen kleinen Schritt rückwärts, um hinter meinen beiden Tanten übersehen zu werden. Aber das junge Mädchen übersah mich nicht und drückte mir eine gelbe Rose in die Hand, die ich in die Grube mit der Urne fallen lassen sollte.
Ich hätte die Blume lieber zu Hause ins Wasser gestellt, damit ihr noch einige Tage Leben vergönnt seien. Was konnte die gelbe Rose denn dafür, dass Tante Trudi gestorben war? Weshalb musste auch sie ins Grab sinken und mit Erde bedeckt werden? Es war so makaber, aber mir fehlte die Zivilcourage ich legte die gelbe Rose mit besonderer Sorgfalt in die regenfeuchte Grube, wollte sie wenigstens gut betten. Diese Heuchelei nahm sie mir übel und kehrte sich trotzig mit dem Stiel nach oben zur Erde.
In der Kirche sagte der Pfarrer nochmals viele wohlgesetzte Worte. Die Trauergemeinde sass in den langen Stuhlreihen und hörte höflich nicht zu. Etwas mehr Aufmerksamkeit schenkte sie den Überlegungen über das Loslassen, welche die Tochter meiner Kusine vorlas: Sterben bedeute loslassen, alles loslassen. Auch das Unerledigte. Ich dachte an meine unbezahlten Rechnungen. Wenn ich sie nur loslassen könnte, ohne dabei sterben zu müssen...
Jetzt kam der übliche Chorgesang an die Reihe. Neben mir sass ein Mann mittleren Alters, noch kaum angegraut. Er sang ein bekanntes Kirchenlied inbrünstig mit. Ich sang nicht. Die gelbe Rose bedrücke mich. War ihre stolze Blüte wohl schon am Sterben? Das Sterben sei in Gottes Hand, hatte der Pfarrer gesagt. Die gelbe Rose war aber nicht in Gottes, sondern in meiner Hand gewesen, und ich hatte sie verraten. Hatte sie schmählich verraten und einem verfrühten Tod preisgegeben. Wo sie doch noch einige Tage hätte leben können, zumindest in einer Vase.
Zum Beten musste man aufstehen, ich habe vergessen, was der Pfarrer betete, aber es war sicher sehr schön und würdig. Leider gab es keine Orgelklänge, die mir sonst immer das Liebste sind an Beerdigungen oder Hochzeiten. Das lange Stillsitzen lohnt sich dann wenigstens. Am Schluss breitete der Pfarrer die weiten schwarzen Ärmel seines Talars aus und segnete uns. Es sah sehr feierlich aus. Danach verliessen die Trauergäste erleichtert die Kirche. Draussen begann die Sonn auf den nassen Blumen und Kränzen zu glänzen. Auf der gelben Rose glänzte sie nicht mehr...
Lislott Pfaff
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